GEHEIMNISSE DER NACHT
überlegte sie. Sie war atemberaubend schön. Komisch, wie das gleiche Gesicht an zwei Menschen so unterschiedlich aussehen konnte. Maxine wirkte eigentlich ganz gewöhnlich. Ganz hübsch, mehr nicht. Morgan hatte den Höhepunkt ihrer Karriere erreicht. Maxine dagegen war sich noch nicht sicher, welche Karriere sie einschlagen wollte, auch wenn sie als Privatdetektiv ihre Berufung gefunden hatte. Natürlich hatte sie das Gleiche auch von Webdesign und ihrer Internetdetektei gedacht. Beides hatte sie allerdings schon wieder abgehakt. Morgan war unglaublich reich und besaß ein Traumhaus, und sie konnte es sich offensichtlich leisten, es so einzurichten, wie es ihr gefiel. Maxine lebte im Haus ihrer Mutter und zahlte für dieses Privileg keinen Pfennig. Morgan hatte einen Mercedes in der Auffahrt stehen, auch wenn er aussah, als ob er kaum je unter seiner handgefertigten Autoabdeckung hervorblickte. Maxine fuhr einen VW-Käfer. Einen originalen VW-Käfer. Waldgrün. Schluckte Benzin wie ein ganz Großer. Falls er überhaupt ansprang.
Und doch war Morgan krank. Und deshalb schien der Rest ihrer Reichtümer vollkommen unbedeutend.
Maxine klopfte nur ein einziges Mal an der Schlafzimmertür. „Morgan, ich bin es. Ich komme rein.“ Sie ließ ihr einen Herzschlag lang Zeit, dann öffnete sie die Tür. Morgan saß in einem Sessel vor ihren Terrassentüren und starrte hinaus.
Sie durchquerte das Zimmer und stellte sich neben Morgan. „Es ist ein wunderschöner Ausblick von hier.“ Und das war es tatsächlich, ein breiter Streifen saftig grünes Gras, dann das tiefe mitternachtsblaue Samtband des Meeres, hier und da befleckt mit weißen Schaumkronen, und schließlich der strahlend blaue Himmel mit vereinzelten Wölkchen, die vorbeischwebten.
Morgan sagte kein Wort.
„Ich verschwinde von hier, Morgan. David hat gesagt, du willst uns loswerden, also gehen wir. Ich bin nur raufgekommen, um mich zu verabschieden.“
Nichts. Sie sah nicht einmal zu ihr auf.
„Wahrscheinlich interessiert dich das einen feuchten Dreck, oder?“, seufzte Maxine, drehte sich auf dem Absatz um und ging auf die Tür zu. „Ich weiß nicht, warum ich es überhaupt versuche.“
„Es tut mir leid, Maxine.“
Sie blieb auf halbem Weg zur Tür stehen. „Tut es das?“ Als Morgan nichts mehr sagte, drehte Maxine sich langsam um. „Warum wirfst du uns raus, Morgan?“
Nur flüchtig trafen sich ihre Blicke, Morgans Augen tanzten davon, wanderten unruhig hin und her. Sie konnte ihren Blick nicht ruhig halten. „Wer hat dich aufgezogen?“, fragte sie endlich.
Maxine blinzelte. „John und Ellen Stuart. Die besten Mittelstands-Vorstädter der Welt.“
Morgan nickte sehr langsam. „Und wie war es, bei ihnen aufzuwachsen?“
„Es war toll. Ich meine, es war eine Familie. Sie haben mich geliebt. Die einzige schlechte Zeit, an die ich mich erinnere, war, als mein Dad gestorben ist. Das war in dem Jahr, in dem ich am College angefangen habe. Sein Herz.“
„Und waren sie … interessiert? An deinem Leben?“
„Mom hat bei jedem Schulkomitee mitgemacht, bei Ausflügen die Aufsicht geführt, manchmal auch bei Tänzen. Dad hat kein Spiel und keine Aufführung verpasst.“ Sie lächelte fast. „Ja, sie waren interessiert. Ich wusste immer, dass ich adoptiert bin. Das war nie ein Thema. Aber wir haben einander geliebt.“
„Ich habe meine Eltern auch geliebt“, erklärte Morgan und wählte ihre Worte mit Bedacht, als kostete es sie Mühe. „Aber ich bin mir immer noch nicht sicher, warum sie mich adoptiert haben. Sie hatten nie Zeit für mich. Ich war fast wie ein Accessoire, das sie gekauft haben, um ihr Image zu polieren. Ich hatte Kindermädchen und Privatlehrer und Ausbilder und Fahrer. Und ich hatte David. Aber meine Eltern hat das alles nicht interessiert. Sie haben ohne mich Urlaub gemacht. Versucht, es gutzumachen, indem sie mich mit Geld überschütteten, mit teuren Geschenken, Autos, Kleidung. Ich hatte meine eigene Kreditkarte, ehe ich vierzehn Jahre alt war.“
„Tut mir leid, dass du es so schwer hattest“, sagte Maxine ehrlich.
„Meinst du das sarkastisch?“
„Vielleicht irritiert dich das, aber ich meine es ernst. Du tust mir leid.“
„Ich will dein Mitleid nicht. Ich versuche nur zu erklären, warum das Wort ‚Familie‘ für mich nicht die gleiche Bedeutung hat wie für dich.“
„Vielleicht hat es das nicht. Aber ich möchte doch annehmen, jemand, der nie eine echte Familie gehabt hat, braucht umso mehr eine.
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