GEHEIMNISSE DER NACHT
Schwester als die.“ Sie hielt kurz inne. „Egal. Lou und ich sind in das Hotel gezogen, das Sumner empfohlen hat. Es stellte sich heraus, dass er schon vorher angerufen hatte. Sieht aus, als wäre er auch ziemlich reich, du solltest das Teil mal sehen. Wir haben eine Suite mit zwei Schlafzimmern, einem Wohnzimmer und einer Küchenzeile. Und der Ausblick – Mann, du hast echt noch nie so einen Ausblick gesehen, Stormy. Riesengroße Fenster, die auf das Meer hinausführen. Wellen und Schaum und die felsige Küste. Boote und Möwen. Warte, du kannst sie hören.“ Sie sperrte ein Fenster ihrer Suite auf und hielt den Telefonhörer hinaus und den kreischenden Seemöwen entgegen. Seeluft brauste hinein, dieser Duft nach Salzwasser und Fisch und Tang, und eine Herbstbrise.
„Hast du sie gehört?“, erkundigte sie sich, auch wenn sie wusste, dass keine Antwort kommen konnte. „Du und ich müssen unbedingt noch mal zusammen her, wenn es dir besser geht. Wir können auch hier übernachten, meinst du nicht? Natürlich ist das hier nichts verglichen mit dem Haus meiner Schwester, aber es ist nett. Hey, und wenn wir herkommen, kannst du Morgan kennenlernen. Du wirst kaum glauben, wie sehr wir uns ähnlich sehen. Sie ist bloß dünner und viel hübscher. Reicher auch, aber sie ist einsam. Sie ist nicht glücklich. Ich weiß nicht, ob sie das je gewesen ist.“
Und sie ist krank, fügte Maxine im Stillen hinzu. Krank, vielleicht muss sie sterben. Genau wie Stormy. Einen Moment lang spürte sie, wie sich ein Gewicht auf ihre Schultern legte, ein erdrückendes, schweres, belastendes Gewicht. Es fiel ihr nicht leicht, zu atmen.
„Wie dem auch sei“, sagte sie mit belegter Stimme, und das Sprechen bereitete ihr mehr Mühe, „Lydia ist endlich hier aufgetaucht, eine Stunde nach uns. Ist wahrscheinlich spazieren gegangen und hat darüber die Zeit vergessen. Sie hat gesagt, David Sumner hat sie gefahren. Er wollte sowieso raus, weil er Morgan zu, ähm, irgendeinem Termin gebracht hat.“
Sie gab sich sehr viel Mühe, nichts Negatives oder Beängstigendes zu sagen. Nicht nur wegen Stormy, sondern weil sie wusste, dass Stormys Mutter wahrscheinlich einen Großteil des Gesprächs mithören konnte, weil sie den Telefonhörer ans Ohr ihrer Tochter hielt. Sie wollte die Frau nicht beunruhigen. Und sie konnte bestimmt nicht erzählen, warum sie wirklich hier in Maine war.
„Ich hab dich lieb, Stormy. Ich will, dass du aufwachst. Weißt du? Damit du antworten kannst, mir Ratschläge geben und mich wegen Lou aufziehen. Es ist nicht fair, dass ich ganz allein reden muss. Wenn ich nach Hause komme, hast du gefälligst wieder wach zu sein. Okay? Wach einfach auf. Wach auf, Stormy …“
Sie musste aufhören. Tränen liefen über ihr Gesicht, und ihre Kehle zog sich zu fest zusammen. Sie versuchte, sich zusammenzureißen, und atmete ein paarmal tief durch.
„Ruhig, Max. Ruhig.“ Große, schwielige Hände auf ihren Schultern, schwer, aber sanft.
Sie blickte über ihre Schulter zu Lou. Sie hatte nicht einmal gehört, wie er das Zimmer betreten hatte. So viel zu den verdammten kreischenden Möwen. Er verpasste ihr eine kurze Boxermassage. Das tat er oft. Es war der engste Körperkontakt, zu dem sie ihn je gebracht hatte, und das nutzte sie aus, weil es half. Sie lehnte sich ein Stück zurück. Seine Brust hinter ihr war fest und warm. Sie konnte fast spüren, wie sie ein wenig dieser Festigkeit und Wärme in ihren eigenen Körper sog, um die Schwäche und die Kälte in sich zu bekämpfen. Wie konnte sie ertragen, gleichzeitig eine Schwester und ihre beste Freundin zu verlieren?
„Maxine?“
Sie zuckte zusammen, überrascht, in der Leitung eine Stimme zu hören. Nur einen kurzen Augenblick dachte sie – aber nein, es war Stormys Mutter. „Hi, Jane. Wie geht es ihr? Irgendeine Veränderung?“
Langes Schweigen. Dann: „Es geht ihr nicht schlechter.“
Aber auch nicht besser, ergänzte Maxine. „Glauben Sie, sie kann mich hören?“
„Ich weiß es, Maxine.“
„Wirklich? Gab es irgendwelche Anzeichen, während ich mit ihr gesprochen habe?“
„Ich brauche keine Zeichen. Ich bin ihre Mutter. Ich weiß es. Du bedeutest ihr alles, und ich weiß, sie kann alles hören, was du sagst.“
Maxine nickte, schniefte, und rieb sich mit dem Handrücken über die Wange. „Ich bleibe nicht viel länger hier. Nur noch einen Tag, höchstens zwei.“
„Du tust, was du tun musst. Ich … ich habe gehört, was du Tempest erzählt hast,
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