GEHEIMNISSE DER NACHT
im Zimmer meiner Schwester anstellen lassen, falls ich es noch einmal brauche?“
„Es tut mir leid, keine Telefone auf der Intensivstation. Aber im Warteraum gibt es ein öffentliches Telefon. Auch einen Fernseher. Der liegt dem Zimmer ihrer Schwester direkt gegenüber.“
Sie nickte. „Wenn ich noch einen Anruf bekomme, können Sie ihn dahin durchstellen?“
„Sicher.“
Maxine blickte zu Lydia, neigte den Kopf und machte sich auf den Weg den Flur hinab bis zum Wartezimmer. Als sie an der Intensivstation vorbeikamen, konnten sie durch eine große Sicherheitsglasscheibe in Morgans Zimmer sehen. David war bei ihr, hielt ihre Hand und sprach mit ihr. „Gleiche Szene, anderes Krankenhaus“, murmelte Maxine.
„Hier ist es.“
Auf der anderen Seite des Korridors war eine Tür, die Lydia für sie offen hielt. Sie ging hinein und sah sich um. Es gab drei Automaten – Snacks, kalte Getränke und Kaffee. Einen Fernseher, ein Radio, ein Telefon – kein Münzfernsprecher, ein echtes Telefon. Einige Stühle und ein paar Futons machten das Bild komplett. Maxine ließ die Tür offen und setzte sich dann so hin, dass sie ihre Schwester gegenüber genau im Blick hatte.
Lydia ließ einige Münzen in den Kaffeeautomaten fallen und wartete darauf, dass ihr Becher sich füllte.
„Du sagst, du schämst dich nicht dafür, vor all den Jahren dein Geld auf diese Art verdient zu haben“, nahm Maxine das Gespräch wieder auf. „Das interessiert mich.“
Lydia nippte an ihrem Kaffee und verzog das Gesicht. „Ich hatte keine andere Wahl.“
Geduldig wartete Maxine noch eine Weile, aber Lydia schien nicht weitersprechen zu wollen. „Komm schon, Lydia. Meinst du nicht, ich habe ein Anrecht auf die ganze Geschichte?“
Ihre Mutter ging zu einem der Stühle, setzte sich langsam, nahm noch einen Schluck Kaffee und stellte den Becher dann auf den kleinen Tisch neben dem Stuhl. „Wahrscheinlich. Es ist aber keine schöne Geschichte.“
„Das ist die Wahrheit selten.“
Lydia nickte und schien sich zusammenzunehmen. „Als ich zehn Jahre alt war, starb mein Vater. Als ich elf war, heiratete meine Mutter noch einmal. Dieser Mann, mein Stiefvater, hat mich missbraucht.“
Wie kalt und klinisch sie klang, wunderte sich Maxine. „Hat er dich geschlagen?“
„Geschlagen, vergewaltigt. Er hat mir auf jede Art wehgetan, die er sich vorstellen konnte. Meiner Mutter auch. Aber sie brachte es nicht über sich, ihn zu verlassen; ich schon.“
„Dann bist du von zu Hause weggelaufen? Wann? Wie alt bist du gewesen?“
„Vierzehn. So lange brauchte ich, um zu merken, dass meine Mutter mich nicht beschützen würde. Sie konnte sich nicht einmal selbst schützen. Und es wurde immer schlimmer. Ich wusste, wenn ich nicht bald da rauskomme, bringt er mich letzten Endes um.“
„Wohin bist du gegangen?“ Maxine betrachtete sie. Lydias Augen waren kalt. Leer.
„Nirgends. Ich konnte nirgendwo hin. Ich blieb in der Stadt, lebte auf der Straße und fand dort Freunde. Die Drogen haben geholfen, den Schmerz zu vergessen. Die Leute dort haben mir beigebracht, wie man überlebt. Am Anfang war die Vorstellung, meinen Körper gegen Geld zu verkaufen, schrecklich. Aber wenn man erst genug Hunger hat, ist es gar nicht mehr so schlimm. Es war jedenfalls viel besser als alles, was zu Hause mit mir passiert ist. Hier hatte ich die Kontrolle. Ich konnte sagen, wann und wie und wer – wenigstens machte ich mir das vor –, und ich wurde dafür bezahlt.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Für eine Weile ging alles gut – dann wurde ich schwanger.“
Maxines Magen zog sich zu einem Knoten zusammen. „Hast du sie nicht … mussten sie sich nicht schützen?“
„Ich konnte die zu nichts zwingen, Max. Es ist gefährlich da draußen. Wenn man dem falschen Freier in die Quere kommt, endet das mit Narben – oder noch schlimmer.“
„Du hast Glück, dass du nur schwanger geworden bist.“
„Das stimmt.“
„Und was ist dann passiert?“
Lydia neigte ihren Kopf. „Da war diese alte Frau. Mary Agnes Brightman, aber alle nannten sie nur Nanna. Sie hatte ein großes Haus in White Plains. Es hieß, sie nimmt schwangere Teenager bei sich auf. Also bin ich hin.“
„Und sie hat dich aufgenommen?“
„Ja. Sie war nicht amtlich registriert. Sie hatte einfach ein großes Haus und ein großes Herz. Sechs von uns wohnten die ganze Zeit bei ihr, während ich dort war, und unzählige andere kamen und gingen. Nanna hat uns Essen gegeben, eingekleidet
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