GEHEIMNISSE DER NACHT
und mit uns wie mit intelligenten Menschen geredet, verstehst du?“ Sie seufzte. „Einige haben sich für eine Abtreibung entschieden, und dann hat Nanna dafür gezahlt, sie zu einem guten Arzt gebracht und dafür gesorgt, dass sie vorher und nachher zur Beratung gingen. Andere wollten ihre Babys behalten und versuchen, sie aufzuziehen. Denen hat sie geholfen, eine Wohnung zu finden, Arbeit, einen Betreuungsplatz, und sie hat für sie Unterstützung beantragt, bis sie auf eigenen Füßen stehen konnten. Einige haben sich dafür entschieden, ihre Kinder zur Adoption freizugeben. Nannas Sohn war Anwalt, und er hat die Vermittlung übernommen, ohne eine Gebühr zu verlangen.“
Für Maxine setzte sich das unvollständige Puzzle ihres Lebens langsam zusammen. „Dafür hast du dich entschieden.“
„Nanna und ihr Sohn Brian haben mich zu dem Paar mitgenommen, das dich adoptieren wollte. Oh, ich habe sie nicht getroffen. Ich kannte auch ihre Namen nicht. Aber ich habe sie beobachtet. Sie waren einkaufen. Sie waren an die Spitze von Brians Warteliste gerückt, deshalb wussten sie, dass sie in weniger als einem Jahr ein Kind bekommen würden. Sie haben Möbel gekauft. Ein Bett, ein Laufgitter. Und ich habe ihnen dabei zugesehen. Sie hat jedes Mal, wenn sie ein kleines Kleidungsstück oder einen Teddybären hochgehalten hat, feuchte Augen bekommen. Echte Tränen in den Augen. Er sagte dann etwas Lustiges, machte Scherze über Kindernamen oder so etwas, bis sie wieder lächelte. Sie sahen … so gut aus. Verstehst du? Nett. Normal. Und die Frau, lieber Gott, sie hat dich so sehr gewollt.“ Mit einem Zittern in der Stimme fuhr Lydia fort. „In der Nacht hat mir Brian Fotos von ihrem Haus gezeigt, auch wenn er mir nicht sagen konnte, wo es stand. Ich hatte keine Ahnung, dass es so nahe war – mitten in White Plains.“
Endlich konnte sie Maxine wieder in die Augen blicken. „Ich wusste, dort würdest du glücklich sein.“
Maxine fühlte sich selbst etwas gerührt. „Aber sie wollten uns nicht beide?“
„Sie hatten nicht die Gelegenheit, die Entscheidung selbst zu treffen. Als wir erfahren haben, dass ich Zwillinge erwarte, hat Brian mich einfach glauben lassen, beide gingen in die gleiche Familie. Aber das war nicht der Fall. Er hat deine Schwester einer anderen Familie vermittelt.“
„Warum?“
Lydias Stimme war mittlerweile rau geworden. „Oh, er dachte, er täte etwas Gutes. Half einem guten Freund an der Westküste, der so verzweifelt ein Kind wollte. Ich glaube nicht, dass er irgendwem schaden wollte. Aber das hat er natürlich. Ich erfuhr die Wahrheit erst, als Nanna zehn Jahre später starb. Sie hatte es irgendwie herausgefunden und war deshalb stinkwütend auf ihren Sohn. Sie hinterließ mir ihr Haus, als Wiedergutmachung sozusagen.“
„Und du hast ihre Arbeit weitergeführt“, ergänzte Maxine.
„Ich bin oft dorthin zurückgegangen und habe Nanna mit den neuen Mädchen geholfen, wenn ich gerade keine Arbeit hatte. Echte Arbeit. Alle Mädchen, die zu ihr kamen, mussten versprechen, nicht zurück in ihr altes Leben zu fallen. Ich war eine der wenigen, die dieses Versprechen hielt. Kimbra war auch eine. Ich habe sie in Nannas Haus kennengelernt.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Als sie also gestorben war und mir ihr Haus hinterlassen hatte, wusste ich darüber, wie man es führen musste, bereits ebenso viel wie Nanna selber. Und Kimbra entpuppte sich als großartige Geschäftsführerin. Sie hat dabei geholfen, uns zu einer gemeinnützigen Organisation zu machen. Haven House.“
Maxine atmete tief durch und sah Lydia an. „Und du dachtest, Morgan und ich würden uns für diese Geschichte schämen?“
Ihre Mutter wendete sich ab. „Nur für den Anfang.“
„Nur gar nicht.“ In einer ganz spontanen Geste griff Maxine nach Lydias Hand. „Du hattest recht mit dem Ehepaar. Ich hatte genau die harmonische Kindheit, die du mir gewünscht hast. Und wenn dieser Anwalt Morgan nicht woanders hingebracht hätte, wäre es ihr genauso gegangen. Meine Adoptiveltern waren wunderbar, Lydia. Mir hat es nie an etwas gefehlt. Schon gar nicht an Liebe.“
Lydia schloss ihre Augen. „Du ahnst ja nicht, was es mir bedeutet, das zu hören. Dich loszulassen – es war so schwer.“
„Das kann ich mir vorstellen. Aber du hast das Richtige getan. Und ich bin dir dankbar.“
„Das Richtige … für dich, vielleicht. Aber Morgan …“
„Gib Morgan noch nicht auf, Lydia. Sie hat doch einen guten
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