GEHEIMNISSE DER NACHT
Glas der Laterne war sauber.
Morgan ging zu der Laterne und klemmte sich ihre Taschenlampe unter einen Arm, damit der Lichtstrahl blieb, wo sie ihn brauchte. Sie fand den Hebel, mit dem sie das Glas der Laterne heben konnte, zündete ein Streichholz an und hielt es an den Docht. Nachdem sie das Glas wieder gesenkt und die Flamme eingestellt hatte, füllte ein weiches gelbes Licht den Raum. Es war so eine unglaubliche Erleichterung, eine hilfreichere Lichtquelle gefunden zu haben, dass sie seufzte, als sie sich umsah, um herauszufinden, wie es – jetzt, wo sie besser sehen konnte – dort unten aussah.
Am anderen Ende des Raumes, auf einer Plattform, die sie vom Boden hob, stand eine Kiste aus Holz, mit der Zeit stumpf geworden, so dunkel, dass es schwarz wirkte, und mit angelaufenen silbernen Griffen an den Seiten.
Sie stand da und starrte, und für die lange Zeit zwischen zwei Herzschlägen weigerte ihr Gehirn sich, die Informationen zu verarbeiten, die ihre Augen ihr sendeten.
Dann erst flüsterte ihr Verstand ihr die Wahrheit zu. Ein Sarg. Ein Schreckensschrei löste sich so laut aus ihren Lungen, dass er von den Wänden abprallte und wieder in ihre Ohren hineintauchte, um sich dort zu verstecken.
Sie biss sich auf die Lippe, um sich selbst zum Schweigen zu bringen, und rang nach Atem. Ihr Herz galoppierte. Der Deckel des Sarges war geschlossen. Er sah alt aus. Wie lange stand dieses Ding schon dort? Lieber Gott, was befand sich darin? Ihr Verstand wollte es wissen. Er befahl ihrem Körper, näher heranzugehen, das Holz zu berühren, den Deckel zu heben und dann …
Er. Dante.
Jede Zelle, jeder Muskel ihres Körpers kribbelte und zuckte mit dem Drang, sich umzudrehen und diesem Ort zu entfliehen. Aber ihr Körper verweigerte beides. Ihre Beine zitterten so sehr, dass sie kaum stehen konnte. Stress verausgabte sie normalerweise genau so schnell wie körperliche Anstrengung, und heute hatte sie beides in Maßen durchgemacht, die sie eigentlich seit einem Jahr nicht mehr aushielt.
Es ist alles nicht wahr. Alles nur wieder einer dieser lebendigen Träume. Das ist alles.
Aber nein. In ihren Träumen war sie immer vital, kräftig und platzte fast vor Energie. Und sie hatte nie Angst. In den Träumen liebte er sie.
Hatte der entstellte Mann recht gehabt? Konnten die Tagebücher echt sein? Konnte ihr Dante genau hier in diesem Sarg liegen? Perfekt erhalten, unsterblich? Untot?
„Vielleicht nicht“, murmelte sie. „Vielleicht hat er sich hier nur heimlich begraben lassen. Vielleicht ist das alles. Der hundert Jahre alte verrottete Leichnam eines reichen exzentrischen Wahnsinnigen ist wahrscheinlich alles, was in dem Kasten ist. Mittlerweile nur noch Knochen. Das ist alles.“ Und wenn sie dann endlich sah, dass Dante nur ein normaler Mann gewesen war, mit einer lebhaften Vorstellungskraft und einer Gabe für das Schreiben, wäre das vielleicht genug, um den Bann zu brechen, der auf ihr lag. Vielleicht konnte sie sich dann aus dem klebrigen Netz befreien, das ihre eigene Besessenheit immer dichter um sie wob.
Sie rang nach Atem und zwang ihre Füße, sich dem Sarg weiter zu nähern. Einen Schritt, dann noch einen. Hätte sie wirklich den Mut, den Deckel zu öffnen, fragte sie sich immer wieder. Vielleicht war er auch versiegelt. Er sollte versiegelt sein, oder nicht? Man warf doch Leichen nicht einfach in Kisten und ließ die dann offen.
Normalerweise versteckte man sie aber auch nicht unter Häusern.
Jetzt war sie am Sarg angelangt und schaffte es mit äußerster Willensanstrengung, ihre Hände behutsam auf den Sarg zu legen. Er fühlte sich kalt an, und zwischen dem Holz und ihrer Handfläche befand sich eine Lage Schmutz. Sie atmete tief durch und befahl sich, den Deckel zu öffnen.
„Nicht“, erklang eine tiefe, volle, gespenstisch vertraute Stimme hinter ihr.
Morgan erstarrte und schloss die Augen. Er war geräuschlos eingetreten. Sie hatte keinen Ton gehört, keinen Schritt. Nichts.
„Finger weg, Morgan. Dort drinnen befindet sich nichts, was Sie sehen müssen.“
„Dante?“, flüsterte sie, immer noch mit geschlossenen Augen.
„Ich …“ Die Stimme zögerte, und Morgan öffnete die Augen in der Gewissheit, die nächsten Worte würden Lügen sein. Sie wusste es so sicher, als wollte sie sich selbst den nächsten Teil spontan überlegen und aussprechen. Sie spürte, wie er nach Worten suchte, wie er seinen Verstand nach einer überzeugenden Lüge durchforschte. „Ja, ich bin Dante, aber
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