Geheimnisse einer Sommernacht
Abend hier gesessen.“
Annabelle wich seinem Blick nicht aus. „Ich sehe keinen Grund, Ihnen eine Erklärung geben zu müssen, Mr. Hunt.“
„Einen Walzer könnten Sie doch schaffen.“
Nur mit Mühe konnte Annabelle Ruhe bewahren. Ihre Gesichtsmuskeln zuckten verräterisch. „Mr. Hunt“, sagte sie streng, „hat Ihnen noch nie jemand erklärt, dass es unhöflich ist, eine junge Dame zu etwas zu drängen, was sie eindeutig nicht will?“
Ein leichtes Lächeln huschte über sein Gesicht. „Miss Peyton, wenn ich immer um Höflichkeit bemüht gewesen wäre, dann hätte ich nie bekommen, was ich wollte. Ich dachte nur, Sie würden sich über eine kurze Pause von Ihrem Mauerblümchendasein freuen. Wenn dieser Ball für Sie so verläuft wie all die anderen vorher, dann wird meine Aufforderung zum Tanz wohl die einzige bleiben.“
„Wie charmant“, erwiderte Annabelle in süffisantem Ton. „Was für ein scharfsinniges Kompliment. Wie könnte ich da ablehnen?“
„Dann wollen Sie also mit mir tanzen?“, fragte er erwartungsvoll.
„Nein“, zischte sie leise. „Und nun gehen Sie. Bitte!“
Doch anstatt sich beschämt davonzuschleichen, grinste Hunt nur über ihre grobe Zurückweisung. Die Reihe makelloser weißer Zähne verlieh dem sonnengebräunten Gesicht etwas Verschlagenes. „Ein Tanz kann doch nicht schaden. Ich bin ein recht guter Tänzer. Es macht Ihnen bestimmt Freude.“
„Mr. Hunt“, schnaubte sie. „Die Vorstellung, mit Ihnen auf irgendeine Art und Weise verbunden zu sein, lässt mein Blut stocken.“
Hunt beugte sich zu ihr hinunter. „Sehr wohl, Miss Peyton“, sagte er so leise, dass nur Annabelle ihn verstehen konnte. „Ich gehe jetzt. Aber denken Sie daran, es mag der Tag kommen, da haben Sie vielleicht nicht mehr die Wahl, ein so ehrenhaftes Angebot von jemandem wie mir auszuschlagen …, vielleicht nicht mal mehr ein unehrenhaftes Angebot.“
Annabelle sah ihn mit großen Augen an. Sie fühlte, wie die Wut langsam in ihr aufstieg. Das war wirklich zu viel des Guten – nicht nur, dass sie den ganzen Abend an der Wand gesessen hatte, nein, sie musste sich auch noch die Beleidigungen eines Mannes anhören, den sie ganz und gar verabscheute. „Mr. Hunt, Sie klingen wie der Bösewicht in einem ziemlich schlechten Theaterstück.“
Noch einmal grinste er ironisch, verbeugte sich mit ausgesuchter Höflichkeit und entfernte sich. Verwirrt und aufgebracht starrte Annabelle hinter ihm her. Die anderen Mauerblümchen atmeten erleichtert auf.
Lillian Bowman fand als erste ihre Sprache wieder. „Das Wörtchen Nein scheint wohl keinen besonderen Eindruck auf ihn zu machen.“
„Was hat er zuletzt zu Ihnen gesagt? Sie sind ja ganz rot geworden?“, fragte Daisy neugierig.
Annabelle blickte auf ihr silbernes Tanzkartenetui und rieb an einem kleinen Fleck. „Mr. Hunt deutete an, dass meine Lage eines Tages möglicherweise so hoffnungslos sein würde, dass ich in Betracht ziehen müsste, seine Mätresse zu werden.“
Wäre sie nicht so bedrückt gewesen, Annabelle hätte über die verdutzten Gesichter laut gelacht. Doch anstatt in jungfräulicher Empörung aufzuschreien oder wenigstens taktvoll zu schweigen, stellte Lillian die Frage, die Annabelle am wenigsten erwartet hätte. „Und? Hat er recht?“
„Recht hat er bezüglich meiner hoffnungslosen Lage“, gab Annabelle zu. „Aber deshalb werde ich noch lange nicht seine – oder irgendeines anderen – Mätresse. Bevor ich so tief sinke, würde ich eher einen Rübenbauer heiraten.“
Lillian lächelte. Offensichtlich war sie von der gleichen grimmigen Entschlossenheit beseelt wie Annabelle. „Ich mag Sie“, verkündete sie, lehnte sich zurück und schlug lässig die Beine übereinander – ein unverzeihlicher Fehler für ein Mädchen in seiner ersten Saison.
„Ich mag Sie auch“, erwiderte Annabelle, ohne nachzudenken, denn es war ihr anerzogen, auf freundliche Worte auch freundlich zu antworten. Doch im gleichen Moment stellte sie überrascht fest, dass sie wirklich so fühlte.
Lillian sah sie weiter mit abschätzendem Blick an. „Ich würde Sie nicht gerne hinter Pferd und Egge durch ein Rübenfeld trotten sehen. Dafür sind Sie nicht geschaffen.“
„Der Meinung bin ich auch. Und? Was schlagen Sie vor?“
Obwohl die Frage witzig gemeint war, schien Lillian sie ernst zu nehmen. „Bevor wir unterbrochen wurden, wollte ich einen Vorschlag machen. Wir sollten einen Club gründen und uns gegenseitig helfen,
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