Geheimnisse einer Sommernacht
Empfangszimmer auf und verfrachtete ihn in die Kutsche. Trotz all der Sorgen um ihre Mutter fiel Annabelle auf, wie resolut ihr Bruder die Situation meisterte, obwohl er doch gerade erst vierzehn war.
Philippa hob den Kopf. Mit einem gequälten Ausdruck in den Augen sah sie Annabelle an. „Es tut mir so leid.“
„Nein, es muss dir nicht …“
„Gerade als ich dachte, alles hätte sich zum Guten gewendet, erschien Hodgeham … Er wollte seine Besuche bei mir fortsetzen. Wenn ich nicht zustimmte, wollte er aller Welt von unserem Arrangement erzählen. Er sagte, dass er uns dann alle ruinieren und mich zum öffentlichen Gespött machen wollte. Ich habe geweint und ihn angefleht, aber er hat nur gelacht …, und dann, als er mich angefasst hat, da ist irgendetwas in mir ausgerastet. Ich sah die Schere, es war wie ein Zwang, ich musste sie nehmen und … ich habe versucht, ihn zu töten. Hoffentlich ist es mir auch gelungen. Es ist mir ganz egal, was nun mit mir geschieht!
„Schsch, Mama“, flüsterte Annabelle und legte tröstend einen Arm um die Mutter. „Niemand kann dich wegen deiner Handlung verurteilen. Lord Hodgeham war ein Monster und …“
„Was?“, fragte Philippa benommen. „Ist er tot?“
„Ich weiß es nicht. Es wird alles gut werden. Jeremy und ich sind bei dir, und Mr. Hunt wird nicht zulassen, dass dir etwas passiert.“
„Mama“, rief Jeremy. Er hielt in der Hand ein Ende des aufgerollten Teppichs, den er zusammen mit dem Diener zum Hintereingang tragen wollte. „Weißt du, wo die Schere geblieben ist?“, fragte er so sachlich, als benötige er die Schere zum Durchtrennen eines Paketbandes.
„Ich glaube, das Küchenmädchen wollte sie säubern“, antwortete Philippa.
„Gut, ich sehe gleich nach.“ Jeremy ging weiter den Korridor hinunter. „Wirf mal einen Blick auf dein Kleid“, rief er über die Schulter. „Alles, was nur eine Spur von Blut aufweist, muss verschwinden.“
„Ja, mein Junge.“
Annabelle traute kaum ihren Ohren. So zwanglos, als sei es eine normale Donnerstagabendunterhaltung sprachen sie und ihre Familie darüber, Beweismaterial für einen Mord verschwinden zu lassen. Wie peinlich jetzt der Gedanke, dass sie sich auch nur ein ganz kleines bisschen Simons Familie überlegen gefühlt hatte.
Zwei Stunden später war Philippas Brandyglas geleert, und sie selbst lag sicher im Bett. Fast gleichzeitig waren Simon und Jeremy im Stadthaus eingetroffen und sprachen im Korridor miteinander. Auf ihrem Weg in die Halle blieb Annabelle auf der Mitte der Treppe stehen, als sie sah, wie Simon ihren Bruder kurz umarmte und ihm über den zerzausten Haarschopf strich. Die väterliche Geste schien Jeremy immens zu beruhigen, denn er zeigte ein blasses Lächeln.
Annabelle war erneut erstaunt, wie schnell ihr Bruder Simon akzeptiert und nicht, wie befürchtet, gegen die neue Autorität rebelliert hatte. Immer wieder wunderte sich Annabelle, dass die beiden so schnell Freundschaft geschlossen hatten. Gerade Jeremys Vertrauen war, wie sie wusste, nicht leicht zu gewinnen. Aber nun fiel ihr mit einem Mal auf, welche Erleichterung es für ihren Bruder bedeutete, sich an eine starke Schulter lehnen zu können.
Einen männlichen Partner zu haben, mit dem er seine Probleme besprechen und der ihm Lösungen vorschlagen konnte, die er allein noch nicht finden konnte. Das gelbe Licht der Lampe in der Eingangshalle fiel auf Simons dichtes schwarzes Haar und beleuchtete seine Wangenknochen, als er zu ihr hochschaute.
Annabelle kämpfte einen verwirrenden Gefühlsschwall in sich nieder und stieg die letzten Stufen der Treppe hinunter. „Hast du Hodgeham gefunden?“
„Ja.“ Simon griff nach dem Mantel, der über dem Geländer hing und legte ihn seiner Frau um die Schultern.
„Komm, alles Weitere erzähl ich auf dem Weg nach Hause.“
Fragend sah Annabelle ihren Bruder an. „Können wir fahren, Jeremy? Wirst du allein zurechtkommen?“
„Ich habe alles im Griff“, erwiderte der Junge mannhaft.
Simons Augen glänzten amüsiert. „Dann lass uns gehen“, sagte er und legte seine Hand um Annabelles Taille.
Sobald sie in der Kutsche saßen, bestürmte Annabelle ihren Mann mit Fragen, bis er ihr den Mund zuhielt. „Ich erzähl dir ja alles, wenn du mal ein oder zwei Minuten still bist“, sagte er. Sie nickte, und er küsste sie grinsend auf den Mund. Dann lehnte er sich in seinem Sitz zurück, und seine Miene wurde wieder ernst. „Ich fand Hodgeham in seinem Haus. Der
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