Geheimnisse einer Sommernacht
streiten hören, und schließlich ist Hodgeham, Hände vor der Brust, herausgewankt.“
Tausend Gedanken schossen Annabelle durch den Kopf. Sie und ihre Mutter hatten Jeremy nie etwas von Hodgeham erzählt. Wenn er kam, war Jeremy stets in der Schule. Ihn hätte der Schlag getroffen, wenn er erfahren hätte, woher ein Teil des Geldes stammte, mit dem sein Internatsaufenthalt bezahlt wurde … Nein, das musste er nicht wissen. Dafür wollte Annabelle später eine Erklärung finden. Im Moment war es wichtiger, Philippa zu schützen.
„Wo ist Hodgeham jetzt? Und wie schwer ist er verletzt?“, fragte Annabelle.
„Ich habe keine Ahnung. Er muss zum Hinterausgang gelaufen sein, wo seine Kutsche wartete. Sein Diener und sein Kutscher müssen sich wohl um ihn gekümmert haben.“ Verständnislos schüttelte Jeremy den Kopf. „Ich weiß weder, wohin Mama ihn gestochen hat, noch wie oft oder warum. Sie hat kein Wort gesagt, sie hat mich nur angesehen, als könne sie sich nicht einmal an ihren eigenen Namen erinnern.“
„Wo ist sie jetzt? Du hast sie doch nicht etwa allein zu Hause gelassen?“
„Ich habe dem Diener gesagt, er soll sie keine Minute aus den Augen lassen und sie auf keinen Fall …“ Jeremy blickte unglücklich auf Simon, der hinter Annabelle aufgetaucht war. „Hallo, Mr. Hunt. Es tut mir leid, Sie noch am Abend zu stören, aber …“
„Ich weiß, ich war im Nebenraum und konnte mithören.“ Während Simon ruhig sein frisches Hemd in die Hose steckte, beobachtete er Jeremy.
Annabelle erstarrte, als sie sich umdrehte und ihren Mann sah. In letzter Zeit hatte sie vergessen, wie Furcht einflößend Simon manchmal sein konnte. Der kalte, schwarze Blick. In diesem Moment sah ihr Mann aus wie ein erbarmungsloser Totschläger.
„Was mag Hodgeham nur zu dieser späten Stunde gewollt haben?“, wunderte sich Jeremy. Das Jungengesicht war angespannt vor Angst und Sorge. „Wieso hat Mama ihn empfangen? Was kann sie so in Rage gebracht haben?
Irgendwie muss er sie provoziert haben. Vielleicht hat er etwas über Papa gesagt …; oder vielleicht ist er sogar zudringlich geworden, dieser dreckige Bastard.“
Sekundenlang war es still. Als Annabelle den Mund öffnete, um zu Jeremys naiven Spekulationen etwas zu sagen, schüttelte Simon unmerklich den Kopf. Ernst und durchdringend sah er Jeremy an. „Lauf zu den Ställen an der Rückseite des Hotels und lass einen Wagen anspannen. Und sie sollen mein Pferd satteln. Danach gehst du nach Hause, holst den Teppich und die blutverschmierten Kleider und bringst die Sachen mit dem Wagen in die Lokomotivfabrik, das erste Gebäude auf dem Werksgelände. Wenn du sagst, dass ich dich schicke, wird der Manager keine Fragen stellen. Dort ist ein Schmelzofen …“
Jeremy verstand sofort. „Ja, ich werde alles verbrennen.“
Simon nickte kurz, und der Junge ging ohne ein weiteres Wort zur Tür.
Als ihr Bruder die Suite verlassen hatte, wandte sich Annabelle an ihren Mann: „Simon …, ich möchte zu meiner Mutter …“
„Du kannst mit Jeremy fahren.“
„Ich weiß nicht, wie es mit Lord Hodgeham weitergehen soll.“
„Ich werde ihn finden“, antwortete Simon düster. „Bete, dass es nur eine leichte Stichwunde ist. Wenn er stirbt, wird es verdammt schwierig werden, diesen Schlamassel geheim zu halten.“
Annabelle nickte und biss sich ängstlich auf die Lippen. „Ich dachte, wir wären diesen Hodgeham endlich los.
Nicht mal im Traum hätte ich daran gedacht, dass er es wagen würde, meine Mutter wieder zu belästigen. Den scheint ja gar nichts aufzuhalten.“
Simon legte ihr die Hände auf die Schultern und antwortete mit einer fast beängstigenden Gelassenheit: „Ich werde ihn aufhalten, darauf kannst du dich verlassen.“
Annabelle sah ihren Mann erschrocken an. „Was hast du vor?“
„Darüber sprechen wir später. Jetzt hol erst mal deinen Mantel.“
„Ja, Simon“, sagte Annabelle und rannte zu ihrem Schrank.
Als Annabelle und Jeremy ihr Elternhaus erreichten, fanden sie ihre Mutter auf der Treppe sitzend. Klein und verzagt blickte sie auf das Glas Brandy, das ihr jemand in die Hand gedrückt hatte. Annabelle drehte es das Herz in der Brust herum, als sie ihre Mutter so niedergedrückt dasitzen sah. „Mama“, sagte sie leise, hockte sich neben sie auf die Stufe und legte ihr die Hand auf den gebeugten Rücken. Ohne Zeit zu verlieren hatte Jeremy inzwischen schon den Diener gerufen. Mit ihm zusammen rollte er den Teppich im
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