Geheimnisse einer Sommernacht
Stück Zucker. Schließlich fand sie ein Bröckchen braunen Kandis, ließ es in ihre Tasse fallen und goss heißen Tee darüber.
Philippa nippte grüblerisch an ihrer Tasse. „Jeremy muss die Schule verlassen“, begann sie ohne aufzuschauen ein neues Thema, das für Annabelle ebenso unangenehm war, wie das vorherige. „Uns fehlt das Geld für das nächste Semester. Ich schulde den Hausangestellten bereits zwei Monatslöhne. Die Rechnungen …“
„Ja, ich weiß“, unterbrach Annabelle ihre Mutter. „Ich werde einen Ehemahn finden, Mama.“ Sie errötete leicht über ihren eigenen Ärger. „Sehr bald.“ Irgendwie gelang es ihr, das Gesicht zu einem halbherzigen Lächeln zu verziehen. „Was hältst du von einem Ausflug nach Hampshire? Jetzt, da die Saison zu Ende geht, verlassen viele Leute London und suchen anderswo neue Vergnügungen – insbesondere bei einer Jagdgesellschaft, zu der Lord Westcliff auf seinen Landsitz einlädt.“
Philippa blickte sie aufmerksam an. „Ich wusste gar nicht, dass der Earl uns eine Einladung geschickt hat.“
„Hat er auch nicht. Noch nicht. Aber wir bekommen eine …, und ich habe das Gefühl, Mama, dass uns in Hampshire nur Gutes erwarten wird.“
4. KAPITEL
Zwei Tage bevor Annabelle und ihre Mutter nach Hampshire reisen wollten, traf ein riesiger Stapel von Paketen und Schachteln ein. Dreimal musste der Diener hoch in Annabelles Zimmer gehen, wo er alles neben ihrem Bett auftürmte. Später machte sich Annabelle vorsichtig ans Auspacken. Sie entdeckte mindestens ein halbes Dutzend Kleider, die nie zuvor getragen worden waren …, bunte Kleider aus gerippter Seide und Musselin, dazu passende Jacken mit weichem Chamoisfutter, eine Abendrobe aus schwerer, elfenbeinfarbener Seide mit Volants aus zarter belgischer Spitze am Oberteil und an den Ärmeln. Sie fand Handschuhe, Schals, Tücher und Hüte, alles von einer so vorzüglichen Qualität und Eleganz, dass Annabelle vor Freude fast die Tränen kamen. Das Geschenk war einfach überwältigend. Die Sachen mussten ein Vermögen gekostet haben – bestimmt nicht für die Bowman-Schwestern, aber nach Annabelles Vorstellungen.
Sie nahm den Brief zur Hand, der mit den Paketen gekommen war, brach das Siegel und las die Zeilen, die in resoluter Handschrift geschrieben waren.
Von deinen Märchenfeen, auch bekannt als Lillian und Daisy.
Alles bestimmt für eine erfolgreiche Jagd in Hampshire.
PS: Verliere ja nicht die Nerven!
Annabelle antwortete:
Liebe Märchenfeen,
Nerven sind das Einzige, was mir geblieben ist. Tausend Dank für die Kleider. Ich gerate in Verzückung bei dem Gedanken, endlich wieder einmal elegante Kleider tragen zu können. Auch einer meiner vielen Fehler: die Liebe zu schönen Dingen.
PS: Die Schuhe schicke ich allerdings zurück. Für meine Füße sind sie viel zu klein. Wobei ich immer dachte, dass amerikanische Mädchen schon auf großem Fuße leben! Eure treue Annabelle
Liebe Annabelle,
ist es ein Fehler, schöne Dinge zu lieben? Vielleicht in England. Wir sind sicher, in Manhattan kommt niemandem ein solcher Gedanke. Und wegen der Bemerkung über die Füße wirst du in Hampshire Schlagball mit uns spielen müssen. Es wird dir gefallen, mit Stöcken nach Bällen zu schlagen. Es macht einen Heidenspaß und befriedigt ungeheuer.
Liebe Lillian, liebe Daisy.
ich gebe meine Zustimmung zum Schlagball, allerdings nur, wenn ihr Evie auch dazu überreden könnt, was ich aber kaum glaube. Und obwohl ich es nicht weiß, bevor ich es ausprobiert habe, kann ich mir eine Menge anderer Dinge vorstellen, die mir viel eher einen Heidenspaß und mich befriedigen könnten, als mit Stöcken auf Bälle einzudreschen. Einen Ehemann zu finden, fällt mir da zum Beispiel ein. Übrigens – was trägt man beim Schlagball?
Ein Ausgehkostüm?
Liebe Annabelle,
wir spielen natürlich in unseren Knickers. In langen Röcken kann man nicht richtig laufen.
Liebe Lillian, liebe Daisy,
das Wort Knickers ist mir unbekannt. Meint ihr damit vielleicht bestimmte Teile der Unterwäsche? Das kann ich nicht glauben. Ihr wollt doch wohl nicht vorschlagen, dass wir wie die wilden Kinder draußen in unseren Unterhosen herumtollen …?
Liebe Annabelle,
das Wort ist die Abkürzung von ‚Knickerbockers‘ – eine Schicht der New Yorker Gesellschaft, von
der wir rituell ausgeschlossen sind. Übrigens, Evie sagt Ja.
Liebe Evie,
ich traute meinen Augen nicht, als die Bowman-Schwestern mir schrieben, dass du in
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