Geheimnisse einer Sommernacht
Mutter recht. In letzter Zeit hatte sie Hunt wirklich recht oft erwähnt. Sie konnte es sich auch nicht erklären, weshalb sie immer wieder an diesen Mann denken musste. Aber es war nicht zu leugnen: Kein anderer Mann aus ihrer Bekanntschaft besaß so viel Charisma, so gefährliche Anziehungskraft wie Hunt und auch kein anderer Mann hatte sich so deutlich für sie interessiert. Und nun, am Ende dieser vermaledeiten Saison, grübelte sie über Möglichkeiten, an die keine anständige junge Frau jemals denken sollte. Es war ihr klar, dass sie ohne viel Mühe Hunts Geliebte werden konnte. Damit wären sie dann alle Sorgen los. Er war ein reicher Mann – er würde ihr alle Wünsche erfüllen, würde die Schulden ihrer Familie zahlen, würde ihr kostbare Kleider kaufen, Juwelen, eine eigene Kutsche, ein eigenes Haus … Sie musste nur mit ihm schlafen.
Sie versuchte sich vorzustellen, wie sie mit Simon Hunt im Bett lag, was er von ihr verlangte, seine Hände auf ihrem Körper, sein Mund … Sie wurde blutrot, verdrängte das Bild und spielte nervös mit den seidenen Rosenapplikationen auf dem Ripshutband. Wenn sie Simon Hunts Geliebte wurde, dann gehörte sie ihm mit Haut und Haar, im Bett und außerhalb. Der Gedanke, ihm so auf Gedeih und Verderb ausgesetzt zu sein, war erschreckend. Doch gleichzeitig meldete sich eine spöttische, innere Stimme: Ist dir deine Ehre so wichtig?
Wichtiger als das Wohl deiner Familie? Oder gar dein Überleben?
„Ja“, flüsterte Annabelle entschlossen ihrem blassen Spiegelbild zu. „Noch ist sie mir wichtig!“ Wie sie sich in Zukunft entscheiden würde, das wusste sie nicht. Aber noch hatte sie die Hoffnung nicht aufgegeben, noch besaß sie Selbstachtung und Stolz …, und um den zu behalten, dafür wollte sie kämpfen.
5. KAPITEL
Weshalb sich der Name der Grafschaft Hampshire von dem altenglischen Wort hamm herleitet, was so viel wie „wasserreiche Wiesenlandschaft“, bedeutet, lässt sich unschwer in der Landschaft erkennen. Hampshire ist reich an solchen Wiesen, aber auch an Heiden und großen, zusammenhängenden Forstgebieten, die einst die königlichen Jagdreviere waren. Dieser kontrastreiche Landstrich Englands, mit dramatischen Steilhängen, tiefen, grünen Tälern und Flüssen voll von Forellen, bot seit jeher reichliche Möglichkeiten für alle nur erdenklichen sportlichen Aktivitäten. Stony Cross Park, der Landsitz des Earl of Westcliff, lag wie ein Juwel in einer fruchtbaren Talaue, die sich behutsam durch riesige Wälder schlängelte. Meist traf man Gäste auf Stony Cross Park an, denn Westcliff war nicht nur als begeisterter Jäger bekannt, sondern auch als ausgezeichneter Gastgeber.
Westcliff besaß einen makellosen Ruf. Er gehörte nicht zu denen, die ständig in irgendwelche Skandale verwickelt waren, •und schien wenig Toleranz für Intrigen und die schlüpfrige Moral der Londoner sogenannten feinen Gesellschaft zu haben. Die meiste Zeit verbrachte er auf seinem Landsitz, kam dort seinen Verpflichtungen nach und sorgte für das Wohl seiner Pächter. Manchmal reiste er nach London, um geschäftliche oder politische Interessen zu verfolgen, die seine Anwesenheit verlangten.
Während einer dieser Aufenthalte in der Hauptstadt war Annabelle auf einer Soiree dem Earl of Westcliff vorgestellt worden. Obwohl man Westcliff nicht im klassischen Sinne attraktiv nennen konnte, war er dennoch nicht ohne gewisse Reize. Er war zwar nur mittelgroß, hatte aber eine kräftige, sportliche Figur und eine sehr maskuline Ausstrahlung. Doch nicht nur diese Äußerlichkeiten, sondern vor allem sein immenser Reichtum und der Besitz einer der ältesten Grafschaften des Landes machten ihn zu einem der begehrtesten Junggesellen auf dem englischen Heiratsmarkt. Annabelle hatte sofort, als sie ihm vorgestellt wurde, versucht, einen heftigen Flirt mit ihm anzufangen. Aber Westcliff, der an solche Annäherungsversuche von jungen Damen gewöhnt war, hatte sie direkt als „auf Männerfang“ abgestempelt – was zwar schmerzte, aber nicht der Wahrheit entbehrte.
Seit Annabelle eine Abfuhr von Westcliff erhalten hatte, war sie ihm stets aus dem Weg gegangen. Allerdings blieb sie weiterhin mit seiner jüngeren Schwester befreundet, die im gleichen Alter wie Annabelle war. Lady Olivia war ein warmherziges Mädchen, dessen Ruf leider durch einen jahrelang zurückliegenden Skandal geschädigt war.
Durch Lady Olivias Fürsprache hatten Annabelle und Evie die Einladung zu dieser
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