Geheimnisse einer Sommernacht
Entrüstung.
„Es reicht“, sagte sie zitternd vor Wut. Keine Hodgehams, keine unbezahlten Rechnungen mehr … Sie musste jemanden finden, der sie unverzüglich heiratete. Auf der Jagdgesellschaft in Hampshire würde sie sich den erfolgversprechendsten Heiratskandidaten angeln, und dann war endlich Schluss. Und wenn das auch wieder schiefging …?
Langsam strich sie über das Türblatt, ihre Hände hinterließen feuchte Streifen auf dem gemaserten Holz. Wenn sie wirklich niemanden fand, dann musste sie eben die Mätresse irgendeines Mannes werden. Als Ehefrau schien man sie ja nicht haben zu wollen, aber eine reichliche Anzahl von Männern schien durchaus bereit, sie in Sünde zu halten. Wenn sie es klug anstellte, dann konnte sie ein Vermögen verdienen. Sie zuckte zusammen bei dem Gedanken, sich nie wieder in guter Gesellschaft bewegen zu können …, verachtet und ausgestoßen und nur nach ihren Talenten im Bett bewertet. Aber was war die Alternative? Ein Leben in tugendhafter Armut als Näherin, Wäscherin oder Gouvernante war weitaus gefährlicher – eine junge Frau in dieser Lage war jedem Mann auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Und dabei würde der Lohn möglicherweise nicht einmal ausreichen, um die Mutter und den Bruder zu unterhalten. Jeremy müsste dann die Schule verlassen und auch eine Stellung annehmen.
Es sah nicht so aus, als ob sich die drei Annabelles Moral leisten konnten. Sie lebten in einem Kartenhaus, das bei der leisesten Erschütterung einstürzen konnte.
Am nächsten Morgen saß Annabelle bereits am Frühstückstisch, als sie ihre Mütter Philippa ins Zimmer kommen hörte. Annabelle schaute nicht auf. Mit eiskalten Händen hielt sie die noch heiße Tasse umklammert, obwohl sie den Tee längst ausgetrunken hatte. Der Daumen strich ruhelos über die winzige angeschlagene Stelle an der Tasse.
„Tee?“, fragte sie einsilbig. Als ihre Mutter leise zustimmte, nahm Annabelle die Kanne, füllte eine Tasse, süßte den Tee mit einem kleinen Stück Zucker und fügte einen guten Schuss Milch hinzu.
„Ich trinke den Tee in Zukunft lieber ohne Zucker“, sagte Philippa.
Der Tag, an dem ihre Mutter Süßigkeiten abschwor, an diesem Tag würde man Eiswasser in der Hölle servieren.
„Zucker für deinen Tee können wir uns immer noch leisten“, erwiderte Annabelle, während sie mit ihrem Löffel kräftig in der Tasse rührte. Dann blickte sie auf und schob Tasse und Untertasse zu Philippas Platz hinüber. Wie erwartet, sah ihre Mutter missmutig und verhärmt aus, Scham verbarg sich hinter der bitteren Fassade. Früher war es für Annabelle unvorstellbar gewesen, dass ihre forsche, temperamentvolle Mutter – die immer viel, viel hübscher als alle anderen Mütter war – jemals so erschöpft aussehen konnte. Doch je länger sie in Philippas müdes Gesicht blickte, desto bewusster wurde es Annabelle, dass sie selbst genauso verdrossen wirken, ihr Mund ähnlich enttäuschte Züge aufweisen musste.
„Wie war der Ball?“, erkundigte sich Philippa, während sie die Tasse dicht vor ihr Gesicht hielt und den warmen Dampf einatmete.
„Das übliche Desaster“, erklärte Annabelle und überspielte den Ernst ihrer Antwort mit einem absichtlich fröhlichen Lachen. „Der einzige Mann, der mich um einen Tanz gebeten hat, war Mr. Hunt.“
„Oh Gott“, stöhnte Philippa und trank von dem heißen Tee. „Hast du mit ihm getanzt?“
„Natürlich nicht. Das wäre ja völlig zwecklos. So wie der mich anschaut, ist es klar, dass er an alles andere als an Heirat denkt.“
„Selbst Männer wie Mr. Hunt werden eines Tages heiraten“, erwiderte Philippa und sah dabei ihre Tochter über den Tassenrand hinweg an. „Du wärst doch die ideale Frau für ihn … Du könntest vielleicht mäßigend auf ihn einwirken und ihm den Zutritt in die gehobene Gesellschaft erleichtern …“
„Oh Gott, Mama, das klingt ja, als wolltest du mich ermuntern, seine Aufmerksamkeit zu erwidern.“
„Nein …“ Philippa nahm den Löffel und rührte nachdenklich in ihrer Tasse. „Nicht wenn du Mr. Hunt wirklich ablehnst. Allerdings …, wenn du ihn auf Vordermann bringen könntest, dann wären wir alle bestimmt ganz gut versorgt …“
„Mama, so einen Mann kann man nicht heiraten. Das wissen alle. Außerdem …, ich könnte mich noch so anstrengen, ich würde niemals einen seriösen Antrag von ihm bekommen.“ Annabelle suchte mit einer glanzlosen Silberzange in der Zuckerdose nach dem kleinsten
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