Geheimnisse einer Sommernacht
sie immer diese eigenartigen Hautverfärbungen bekam, wenn sie Kummer hatte.
„Sind Sie in Schwierigkeiten, Annabelle?“, erkundigte sich Hunt besorgt.
Wie kam er dazu, sie so lieb, ja fast fürsorglich anzusprechen?
Glaubte er etwa, sie würde ihn um Hilfe bitten? Niemals!
„Das hätten Sie wohl gern“, schimpfte sie. „Da würden Sie sich aber freuen, was? Sich mir aufdrängen können und daraus für sich was machen. Das wollen Sie doch.“
Hunt sah sie aufmerksam an. „Wie kann ich Ihnen helfen?“
„Gar nicht!“, versicherte sie ihm barsch. „Und reden Sie mich nicht mit meinem Vornamen an. Benutzen Sie bitte in Zukunft eine korrekte Anrede. Am besten lassen sie mich überhaupt in Ruhe.“ Und da sie seinen forschenden Blick nicht länger ertragen konnte, wandte sie sich abrupt von ihm ab. „Entschuldigen Sie mich, ich muss meine Mutter suchen.“
Aschfahl im Gesicht setzte sich Philippa auf den Stuhl neben dem Schminktisch und starrte ihre Tochter an.
Annabelle hatte gewartet, bis die Zimmertür fest hinter ihnen geschlossen war, und dann erst ihrer Mutter die schreckliche Neuigkeit berichtet. Philippa hatte eine volle Minute gebraucht, bis sie ganz begriff, dass der Mann, vor dem sie sich fürchtete und den sie so abgrundtief verabscheute, ebenfalls zu Gast auf Stony Cross Park war.
Eigentlich hatte Annabelle erwartet, dass ihre Mutter in Tränen ausbrechen würde. Aber Philippa drehte nur den Kopf leicht zur Seite und blickte geistesabwesend, mit einem seltsam traurigen Lächeln, auf einen Punkt in der dunklen Zimmerecke. Ein so eigenartiges Lächeln hatte Annabelle noch nie bei ihr bemerkt, ein skurriles, bitteres Lächeln, das andeutete, dass man die eigene Situation nicht verbessern konnte, so sehr man sich auch bemühte. Das Schicksal würde unweigerlich seinen Lauf nehmen.
„Sollen wir Stony Cross Park verlassen?“, fragte Annabelle vorsichtig. „Wir könnten sofort nach London zurückfahren.“
Als Philippa endlich antwortete, klang sie wie betäubt.
„Wenn wir das tun“, begann sie langsam und nachdenklich, „machen wir uns alle Hoffnung auf deine Heirat zunichte. Nein, das müssen wir durchstehen. Wir haben keine andere Wahl. Morgen früh gehen wir mit Lord Kendall spazieren. Ich lasse es nicht zu, dass Hodgeham deine letzte Chance kaputt macht.“
„Er wird eine Quelle ständigen Ärgernisses sein“, gab Annabelle leise zu bedenken. „Wenn wir nicht abreisen, wird der Aufenthalt hier für uns zum Albtraum.“
Philippa drehte sich um und sah ihre Tochter immer noch mit diesem beunruhigenden Lächeln an. „Mein liebes Kind, der richtige Albtraum wird erst in London beginnen, wenn du hier niemanden gefunden hast, der dich heiratet.“
8. KAPITEL
Von Ängsten gequält schlief Annabelle in dieser Nacht nur zwei, vielleicht drei Stunden. Als sie schließlich in aller Frühe aufstand, sah sie blass und müde aus und hatte dunkle Schatten unter den Augen. „Verdammt“, fluchte sie leise, während sie sich ein feuchtkaltes Tuch aufs Gesicht presste. „Uralt sehe ich heute Morgen aus.“
„Was hast du gesagt, Liebes?“, fragte ihre Mutter verschlafen. In einem fadenscheinigen Morgenrock und dünnen, ausgetretenen Hausschuhen stand sie hinter ihrer Tochter.
„Nichts, Mutter. Ich führe Selbstgespräche“, sagte Annabelle und rieb kräftig über ihr Gesicht, um etwas Farbe auf die Wangen zu bringen. „Ich habe schlecht geschlafen.“
„Ein bisschen müde siehst du tatsächlich aus, Kind. Ich lasse Tee kommen.“
„Aber eine große Kanne“, bat Annabelle, und als sie ihre roten, verschwollenen Augen im Spiegel sah, fügte sie hinzu: „Am besten zwei.“
Philippa lächelte mitfühlend. „Was sollen wir anziehen für den Spaziergang mit Lord Kendall?“
Annabelle wrang das feuchte Tuch aus und legte es beiseite. „Alte Kleider. Auf den Waldwegen wird es vermutlich sehr matschig sein. Aber mit den neuen Seidenschals von den Bowman-Schwestern können wir die hässlichen Fummel ja etwas kaschieren.“
Nachdem die Zofe das Frühstück gebracht, Annabelle eine Tasse dampfend heißen Tee getrunken und hastig ein paar Bissen von dem Toast gegessen hatte, beendete sie ihre Morgentoilette. Kritisch betrachtete sie sich im Spiegel. Der blaue Seidenschal verdeckte das verschlissene Oberteil ihres beigefarbenen Kleides. Der neue Hut, auch er von den Bowmans, stand ihr ausgezeichnet. Die grünlich gefütterte Unterseite bildete einen wunderbaren Kontrast zu Annabeiles
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