Geheimnisse einer Sommernacht
er ja eigentlich recht hatte, milderte ihre Wut kaum. Sie wusste genau, dass sie viel zu temperamentvoll für einen so sanftmütigen und gebildeten Mann wie Kendall war. Aber was ging das Hunt an? Schließlich boten ihr weder Hunt noch irgendein anderer Mann eine bessere Alternative!
„Mr. Hunt“, begann sie zuckersüß, aber mit giftigem Blick, „warum gehen Sie nicht und …“
„Miss Peyton“, ertönte es leise aus mehreren Metern Entfernung. Annabelle sah Lord Kendalls schlanke Gestalt zwischen der Horde junger Mädchen auftauchen. Zerzaust und mit leicht gequälter Miene bahnte er sich den Weg zu ihr. „Guten Morgen, Miss Peyton!“ Bevor er weitersprach, richtete er den Knoten seiner Krawatte und rückte seine dicken Brillengläser zurecht. „Wie es aussieht, waren wir nicht die Einzigen, die sich zu einer Morgenwanderung entschlossen haben.“ Er lächelte verlegen. „Sollen wir es dennoch wagen?“
Annabelle zögerte. Was konnte sie schon erreichen bei einer Wanderung mit Kendall in einem Tross von mindestens einem Dutzend Frauen? Nichts! Inmitten einer Schar kreischender Elstern ließ sich auch kein ruhiges Gespräch führen. Andererseits konnte sie Kendalls Angebot auch nicht ablehnen. Die geringste Zurückweisung konnte ihn verschrecken und davon abhalten, noch einmal zu fragen.
Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. „Gern, Mylord!“
„Ausgezeichnet! In dieser Gegend gibt es einige faszinierende Beispiele von Flora und Fauna, die ich Ihnen gern zeigen möchte. Aus Liebhaberei bin ich zum Gartenbauexperten geworden und habe eine detaillierte Studie der Vegetation gemacht, die hier in Hampshire …“
Der Rest seines Satzes ging im enthusiastischen Geschrei der Mädchen um ihn herum unter.
„Oh, ich liebe Pflanzen“, schwärmte eins der Mädchen. „Ich finde sie alle so wunderbar.“
„Und ohne sie wäre die Natur so unattraktiv“, rief ein anderes begeistert.
„Oh, Lord Kendall“, schmachtete ihn ein drittes Mädchen an, „erklären Sie uns doch einmal den Unterschied zwischen Flora und Fauna …“
Die Schar der jungen Verehrerinnen zog Kendall mit sich. Wie von einer starken Strömung auf See wurde er davongetragen. Tapfer und fest entschlossen, Annabelles Interessen zu wahren, quetschte sich Philippa zwischen die Mädchen. „Meine Tochter war sicherlich zu bescheiden, um ihre starke Liebe zur Natur zu erwähnen …“, versuchte sie Kendall mitzuteilen.
Während man ihn zur Treppe drängte, die von der Terrasse in den Park führte, warf er Annabelle über die Schulter einen hilflosen Blick zu. „Miss Peyton?“
Damit er sie hören konnte, legte Annabelle die Hände wie einen Trichter an den Mund und rief ihm zu: „Ich komme!“
Seine Antwort, wenn er denn überhaupt eine gab, konnte sie nicht verstehen.
In aller Ruhe stellte Simon Hunt seine leere Kaffeetasse auf den nächsten Tisch und gab dem Diener, der seine Angelausrüstung trug, leise Anweisungen. Der Diener nickte und entfernte sich. Danach holte Hunt Annabelle ein und ging neben ihr her.
„Was soll das?“, fragte sie ärgerlich.
Hunt schob die Hände tief in die Taschen seiner Anglerhose. „Ich begleite Sie. Forellenfang ist bestimmt nur halb so interessant für mich wie Sie zu beobachten, wenn Sie um Kendalls Aufmerksamkeit buhlen. Außerdem sind meine Kenntnisse in Naturkunde recht kümmerlich. Vielleicht kann ich ja was lernen.“
Annabelle schluckte eine wütende Antwort hinunter und folgte resoluten Schrittes Kendall und dessen Tross. Sie gingen von der Terrasse über einen Weg, der direkt in den Wald führte und wo hohe Buchen und Eichen über dicke Moosteppiche, Farne und Flechten herrschten. Simon Hunts Gegenwart völlig ignorierend trottete Annabelle zunächst schweigend hinter Kendalls Verehrerinnen her, die ihm große Anstrengungen abverlangten. Freundlich half er einem Mädchen nach dem anderen über noch so kleine Hindernisse hinweg. Ein umgefallener Baum, der Stamm nicht dicker als Annabeiles Arm, wurde zu einer so ungeheuren Barriere, dass sie alle Kendalls Hilfe in Anspruch nehmen mussten, um darüberzusteigen. In der Folge zeigte sich ein Mädchen nach dem anderen hilfloser als ihre Vorgängerin, sodass sich der arme Kerl schließlich gezwungen sah, die letzte junge Dame auf seinen Armen über den Stamm zu tragen, während sie sich jauchzend und mit gespieltem Wehklagen an seinen Hals klammerte.
Annabelle und Simon Hunt folgten in größerem Abstand. Lag ein Stamm im Weg, so
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