Geheimnisse einer Sommernacht
enden.
7. KAPITEL
Bald nachdem sich die Herren wieder zu den Damen gesellt hatten, zogen sich die meisten Gäste, müde von der Anreise, auf ihre Zimmer zurück. So entdeckte Annabelle, als sie durch die breite Flügeltür wieder in den Salon kam, sofort die anderen Mauerblümchen, die schon gespannt auf sie warteten. Die vier suchten sich ein stilles Eckchen, wo sie ungestört reden konnten.
„Und? Wie war’s?“, fragte Lillian ungeduldig.
„Meine Mutter und ich machen morgen früh einen Spaziergang mit Lord Kendall“, antwortete Annabelle.
„Nur ihr drei?“
„Nur wir drei“, versicherte Annabelle. „Wir treffen uns extra schon bei Tagesanbruch, damit uns die anderen Mädchen nicht folgen.“
In einer anderen Umgebung hätten die vier wohl vor Begeisterung laut gejauchzt, so aber grinsten sie nur triumphierend, und lediglich Daisy stampfte temperamentvoll mit den Füßen einen kleinen Freudentanz auf den Boden.
„W…Wie ist er?“, wollte Evie wissen.
„Schüchtern, aber nett. Und – was ich gar nicht zu hoffen wagte – er scheint sogar Sinn für Humor zu haben“, erklärte Annabelle.
„Was willst du mehr? Ein vollständiges Gebiss hat er auch noch“, neckte Lillian sie.
„Du hattest recht, Evie. Kendall ist leicht zu verschrecken“, sagte Annabelle. „Ganz bestimmt möchte er keine willensstarke Frau. Gern mach ich ihm nichts vor, aber ich muss ja wohl versuchen, die Schüchterne zu spielen.
Doch dabei werde ich ständig ein schlechtes Gewissen haben.“
„Keine Frau zeigt ihrem Verehrer ihr wahres Gesicht, und die Männer sind auch nicht ehrlich mit ihren Bräuten“, erklärte Lillian prosaisch. „Wir versuchen alle, unsere Fehler zu kaschieren. Wir sagen Dinge, die der andere unserer Meinung nach hören will. Wir tun so, als seien wir stets freundlich und niemals missvergnügt und als störten uns die grässlichen Angewohnheiten des anderen überhaupt nicht. Nach der Trauung lassen wir dann den Schleier fallen.“
„Ich glaube allerdings nicht, dass Männer so viel zu verbergen haben wie Frauen“, erwiderte Annabelle. „Ein Mann kann korpulent sein, schlechte Zähne haben oder langweilig sein, er ist immer noch ein guter Fang, solange er sich wie ein Gentleman benimmt und Geld hat. An Frauen werden weitaus höhere Ansprüche gestellt.“
„Und deshalb sind wir auch alle M…Mauerblümchen.“
„Aber nicht mehr lange“, versprach Annabelle.
Aus dem Ballsaal kam Evies Tante Florence. Evie mit ihrem roten Haar, dem runden Gesicht und dem sommersprossigen Teint besaß wenig Ähnlichkeit mit ihrer allzu oft übellaunigen Tante, die in dem schwarzen Kleid, das ihre fahle Gesichtshaut noch unterstrich, wie eine vertrocknete, alte Hexe wirkte. „Evangeline“, rief sie streng und bedachte die Mädchen mit einem missbilligenden Blick. „Habe ich dir nicht befohlen, du sollst fragen, bevor du dich aus dem Staub machst? Mindestens zehn Minuten habe ich bereits nach dir gesucht. Ich kann mich nicht erinnern, dass du um die Erlaubnis gebeten hast, dich mit deinen Freundinnen treffen zu dürfen. Und dann ausgerechnet diese Mädchen …“ Seufzend erhob sich Evie und folgte gehorsam ihrer Tante, die weitermäkelte, während sie voran zur großen Treppe ins obere Geschoss ging. In stillem Protest hatte Evie die Hand auf den Rücken gelegt und winkte den Freundinnen verschwörerisch zu.
„Evie hat erzählt, dass ihre Familie sehr reich ist. Aber sie sollen auch alle sehr unglücklich sein. Weshalb wohl, frage ich mich“, sinnierte Daisy.
„Altes Geld“, erklärte Lillian. „Vater sagt immer, nichts sei schlimmer als ein Leben im Überfluss, da vergisst man, wie gut man es hat.“ Sie hakte Daisy unter. „Komm, Schwesterherz, lass uns gehen, bevor Mutter merkt, dass wir weg gewesen sind.“ Fragend blickte sie Annabelle an. „Willst du uns begleiten?“
„Nein, danke. Ich treffe meine Mutter gleich am Fuß der großen Treppe.“
„Dann gute Nacht!“ Lillians dunkle Augen strahlten spitzbübisch, als sie fortfuhr: „Wenn wir morgen früh aufwachen, kommst du ja schon von deinem Spaziergang mit Kendall zurück. Zum Frühstück erwarte ich einen ausführlichen Bericht.“
Annabelle salutierte scherzhaft und sah zu, wie sich die beiden Schwestern entfernten. Langsam schlenderte sie dann zur großen Treppe. Sie wusste, es konnte lange dauern, bis Philippa ihre Unterhaltung im Salon beendet hatte.
Tausend Gedanken schwirrten Annabelle durch den Kopf, während sie
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