Geheimnisse einer Sommernacht
bleichen Gesichtszüge. „Wann und wo haben Sie sich das Fußgelenk verletzt?“, fragte er.
„Ich weiß es nicht…, vielleicht beim Schlagball …“
„Während des Abendessens haben Sie nichts getrunken.“ Hunt legte seine Hand auf ihre Stirn. Die Geste, mit der er prüfen wollte, ob sie Fieber hatte, war ungewöhnlich vertraulich. „Haben Sie vorher etwas getrunken?“
„Alkohol oder Wein? Nein.“ Annabelle hatte das Gefühl, als verlöre sie ganz allmählich, aber immer mehr das Gefühl für ihren Körper. „In meinem Zimmer habe ich etwas Weidenrindentee getrunken.“
Ihr war kalt, eine Gänsehaut lief ihr über den Rücken, und sie zitterte in ihrem verschwitzten Abendkleid. Langsam und zärtlich strich Hunt mit der Hand über ihre Wange. Hunts Körper strahlte eine solche Wärme aus, dass sie sich am liebsten wie ein kleines Tier unter seiner Jacke verkrochen hätte. „Ich f…friere“, hauchte sie, und sofort wurde Hunts Umarmung wieder fester.
„Halten Sie sich an mir fest“, befahl er leise, während er, ohne sie dabei loszulassen, geschickt seine Jacke um sie legte. Annabelle brachte nur ein undeutliches Danke heraus, als er sie in das Kleidungsstück wickelte. Es strahlte noch seine Körperwärme aus.
Ihre Freundin in den Armen des verabscheuten Feindes sehen zu müssen, machte Lillian wütend. „Verstehen Sie nicht, Mr. Hunt, meine Schwester und ich …“
„Suchen Sie Mrs. Peyton“, unterbrach Simon sie in einem leisen, aber herrischen Ton. „Und bestellen Sie Lord Westcliff, er soll nach einem Arzt schicken.“
„Und was tun Sie?“, wollte Lillian wissen, die offensichtlich nicht gewohnt war, in dieser Art Befehle zu erhalten.
Hunt blickte sie scharf an. „Ich werde Miss Peyton durch den Dienstboteneingang ins Haus tragen. Ihre Schwester wird uns begleiten, um jeden Eindruck einer Unschicklichkeit zu vermeiden.“
„Das beweist, wie wenig Sie über Unschicklichkeit wissen“, zischte Lillian beleidigt.
„Darüber will ich jetzt nicht diskutieren. Versuchen Sie lieber zu helfen. Aber schnell!“
Entrüstet sah Lillian ihn einen Moment an, dann drehte sie sich um und ging zur Tür, die in den Ballsaal führte.
Daisy war ganz offensichtlich beeindruckt. „Ich kann mich nicht erinnern, dass irgendjemand schon mal gewagt hat, so mit meiner Schwester zu sprechen. Sie sind der tapferste Mann, dem ich je begegnet bin, Mr. Hunt.“
Hunt bückte sich, legte seinen Arm unter Annabelles Kniebeugen, und ehe sie recht wusste, wie ihr geschah, hob Hunt sie hoch. Zitternd und mit raschelnden Seidenröcken lag sie in seinen Armen. Noch nie war sie von einem Mann getragen worden. „Ich glaube ich kann noch gehen“, stotterte sie verlegen.
„Aber nicht die Treppe hinunter“, widersprach Hunt. „Gestatten Sie mir, Ihnen die ritterliche Seite meines Charakters zu zeigen. Könnten Sie bitte Ihren Arm um meinen Nacken legen?“
Annabelle gehorchte. Dankbar, dass sie ihr schmerzendes Fußgelenk nicht mehr belasten musste, erlag sie sogar der Versuchung, den Kopf gegen seine Schulter zu lehnen und den linken Arm um seinen Nacken zu legen. Während Hunt sie ohne Mühe über die Verandatreppe trug, konnte sie unter dem Hemd das Spiel seiner Muskeln fühlen.
„Ich wusste gar nicht, dass Sie auch eine ritterliche Seite haben“, sagte sie. Ihre Zähne klapperten bei einem erneuten Anfall von Schüttelfrost. „Ich dachte, Sie seien ein richtiger Schurke.“
„Und ich weiß gar nicht, wieso die Leute solche Vorstellungen von mir haben“, erwiderte er und blickte zu ihr herunter, ein spöttisches Funkeln in den Augen. „Leider werde ich stets verkannt“.
„Ich halte Sie immer noch für einen Schurken.“
Hunt grinste und bettete sie etwas bequemer in seinen Arm. „Ihr Urteilsvermögen ist offensichtlich von der Krankheit noch nicht beeinträchtigt.“
„Warum helfen Sie mir eigentlich, nachdem ich Ihnen vor Kurzem noch gesagt habe, Sie sollen zum Teufel gehen?“, wisperte sie.
„Ich habe eben ein starkes persönliches Interesse an Ihrem Wohlergehen. Schließlich sollen Sie in ausgezeichneter Verfassung sein, wenn ich meine Schuld einfordere.“
Schnell und sicheren Fußes schritt Hunt die Treppe hinunter. Annabelle spürte die Anmut, mit der er sich bewegte, nicht graziös wie ein Tänzer, sondern eher behände wie eine Katze, die auf Beute aus ist. Ihre Gesichter waren so nahe beieinander, dass sie die dunklen Bartstoppeln unter seiner glatt rasierten Gesichtshaut
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