Geheimnisse einer Sommernacht
„Sieh mal, was ich vor der Tür gefunden habe. Irgendjemand muss sie da hingestellt haben, ohne Notiz, ohne ein Wort. Völlig neu sind sie, schau doch nur. Könnten sie von einer deiner Freundinnen sein? Natürlich! So ein exzentrisches Geschenk kann doch nur von den jungen Amerikanerinnen kommen.“
Annabelle setzte sich in den Kissen auf. Ein Paar Schuhe lag auf ihrem Schoß. Völlig verblüfft blickte sie auf das Angebinde. Ein paar Halbschuhe, adrett zusammengebunden mit einer roten Schleife. Stiefeletten aus butterweichem Leder, in einem modischen hellen Braunton und spiegelblank poliert. Mit kleinen Lederabsätzen, festen, handgenähten Ledersohlen, einem kunstvoll gesteppten Blattmuster, das bis zu den Stiefelspitzen führte, äußerst elegant und dennoch zweckmäßig. Plötzlich musste Annabelle lachen.
„Diese Stiefel können nur von den Bowman-Schwestern kommen“, behauptete sie, obwohl sie es besser wusste.
Die Stiefeletten waren ein Geschenk von Simon Hunt, der natürlich genau wusste, dass ein Gentleman einer jungen Dame kein Kleidungsstück schenken durfte. Ich muss sie sofort zurückgeben, dachte sie, und hielt die Schuhe dennoch mit beiden Händen fest. Nur Simon Hunt konnte ihr etwas schenken, das zugleich so praktisch und so ungebührlich persönlich war.
Lächelnd löste sie das rote Band und hielt einen Schuh hoch. Er war erstaunlich leicht, und sie wusste mit einem Blick, dass er perfekt passen würde. Aber woher kannte Hunt ihre Schuhgröße, woher hatte er die Stiefel? Langsam ließ sie ihren Finger über die winzigen, akkuraten Stiche zwischen Sohle und dem glänzenden, hellbraunen Oberleder gleiten.
„Schön! Fast zu schön, um damit draußen durch den Matsch zu laufen“, meinte Philippa.
Annabelle hob den Stiefel an ihre Nase und atmete den erdigen Duft des sauberen Leders ein. Dann strich sie mit dem Finger über die weiche, hellbraune Stulpe, hielt den Stiefel etwas von sich weg und betrachtete ihn, als sei er eine kostbare Skulptur. „Von Wanderungen durch das Gelände habe ich die Nase voll“, erklärte sie mit einem Lächeln. „Diese Schuhe werden nur auf sauber geharkten Kieswegen im Park gehen.“
Liebevoll strich Philippa ihrer Tochter das Haar glatt. „Ich hätte nicht gedacht, dass ein Paar neue Schuhe dich derart aufmuntert. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie erleichtert ich bin. Möchtest du vielleicht jetzt etwas essen, Kind? Soll ich dir eine Suppe oder einen Toast bestellen? Vor dem nächsten Becher Labkrauttee solltest du unbedingt etwas zu dir nehmen.“
Annabelle verzog das Gesicht. „Na gut, eine Suppe vielleicht.“
Zufrieden nickend griff Philippa nach den Stiefeletten. „Die stell ich in den Schrank …“
„Noch nicht“, wehrte sich Annabelle und hielt einen Schuh fest.
Lächelnd ging Philippa und läutete die Dienstbotenglocke.
Annabelle lehnte sich in den Kissen zurück und strich nachdenklich über das seidige Leder. Ihr war, als wäre ihr ein ungeheures Gewicht von der Brust genommen. Offensichtlich ein Zeichen, dass die Wirkung des Giftes allmählich nachließ. Aber es erklärte dennoch nicht, weshalb sie sich plötzlich so erleichtert und zufrieden fühlte.
Natürlich musste sie Hunt danken und ihm sagen, dass sein Geschenk unpassend war. Und wenn er zugab, dass er es wirklich gewesen war, der ihr die Stiefel vor die Tür gestellt hatte, musste sie ihm die Schuhe zurückgeben. Ein Gedichtband, eine Dose Rahmbonbons oder ein Blumenbukett wären wesentlich schicklicher gewesen. Aber kein Geschenk hatte sie jemals so erfreut wie dieses.
Annabelle trennte sich den ganzen Abend nicht von den Stiefeln. Selbst die Warnung ihrer Mutter, dass Schuhe auf dem Bett Unglück brächten, schlug sie in den Wind. Erst als sie bei den sanften Klängen der Tanzmusik, die immer noch durch das geöffnete Fenster heraufschallte, langsam eindöste, ließ sie es zu, dass die Schuhe auf den Nachttisch gestellt wurden. Und als sie am nächsten Morgen aufwachte, fiel ihr erster Blick auf das kostbare Geschenk, und sie lächelte glücklich.
14. KAPITEL
Am dritten Morgen nach dem Vipernbiss fühlte sich Annabelle so weit, dass sie aufstehen konnte. Im Herrenhaus von Stony Cross war es ruhig, da die meisten Gäste einer Einladung zu einem Nachbargut gefolgt waren. Nach Rücksprache mit der Haushälterin hatte Philippa ihre Tochter in einen kleinen Salon auf der ersten Etage gebracht, von dem aus man in den Garten blicken konnte. Es war ein hübsches,
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