Geheimnisse einer Sommernacht
das Viperngift und das wenig schmackhafte Gegenmittel –, aber allein das Wissen um den Grund ihrer schlechten Laune hob ihre Stimmung nicht.
Lillian, die bemerkte, wie deprimiert Annabelle war, nahm die silberne Haarbürste zur Hand. „Denk nicht an Lady Constance und Lord Kendall“, riet sie ihr. „Komm, ich bürste dir das Haar. Du fühlst dich bestimmt besser, wenn es dir nicht so wirr ins Gesicht hängt.“
„Wo ist mein Handspiegel?“, fragte Annabelle. Sie rutschte im Bett etwas nach vorn, damit Lillian hinter ihr sitzen konnte.
„Weiß ich nicht“, erwiderte die Freundin ruhig.
Es war Annabelle nicht entgangen, dass der Spiegel verschwunden war. Sie wusste, dass die Krankheit sie schwer gezeichnet, ihr Haar seinen Glanz und ihr Teint die übliche gesunde Farbe verloren hatte. Außerdem hatte sie wegen der ständigen Übelkeit nichts gegessen, und ihre Arme, die jetzt schlaff auf der Bettecke lagen, sahen mittlerweile richtig dünn aus.
Am Abend schallten die fröhlichen Klänge von Tanz und Musik aus dem Ballsaal durch das offene Fenster zu Annabelles Krankenbett herauf. Annabelle wälzte sich unruhig von einer Seite auf die andere. Sie stellte sich vor, wie Lady Constance in Lord Kendalls Armen lag und mit ihm Walzer tanzte. Sie war jetzt davon überzeugt, dass all ihre Aussichten, einen Mann zu angeln, endgültig dahin waren. „Ich hasse Vipern“, nörgelte sie leise, während sie zusah, wie ihre Mutter Medizinfläschchen und Löffel, Taschentücher, Haarbürste und Haarnadeln auf dem Nachttischchen ordnete. „Ich hasse es, krank zu sein, ich hasse Waldspaziergänge und am meisten hasse ich Schlagball in Knickers!“
„Was hast du gesagt, Liebes?“
Annabelle schüttelte traurig den Kopf. „Ich …, ach … nichts, Mama. Ich habe nachgedacht. Ich möchte zurück nach London, in ein oder zwei Tagen, sobald ich reisen kann. Es lohnt sich nicht, weiter hier zu bleiben. Lady Constance hat es inzwischen bestimmt geschafft, Lady Kendall zu werden. So krank, wie ich aussehe, und so elend, wie ich mich im Moment fühle, kann ich sowieso keinen Mann bezirzen. Und außerdem …“
Philippa setzte das Tablett ab, auf das sie gerade ein paar leere Gläser gestellt hatte. „Gerade jetzt würde ich nicht alle Hoffnung aufgeben, Liebes.“ Sie beugte sich zu Annabelle hinunter und strich ihr liebevoll übers Haar. „Noch ist keine Verlobung bekannt gemacht worden. Und Lord Kendall erkundigt sich sehr oft nach deinem Befinden.
Denk doch mal an den Riesenstrauß Glockenblumen, den er dir geschickt hat. Selbst gepflückt, hat er mir erklärt.“
Verdrießlich schaute Annabelle auf das gewaltige Blumenarrangement, dessen Duft süßlich im Raum hing. „Ach, Mama, könntest du die Blumen vielleicht nach draußen stellen? Sie sind schön, und ich freue mich auch darüber, aber der Geruch …“
„Oh Gott, daran habe ich gar nicht gedacht.“ Sofort eilte Philippa in die Ecke, in der der Strauß stand, und brachte die Vase mit den zierlichen blauen Blüten zur Tür. „Ich stelle sie auf den Flur. Das Hausmädchen kann sie dann entfernen …“, sagte sie, während sie die Tür hinter sich schloss.
Annabelle spielte nachdenklich mit einer Haarnadel. Die meisten Gäste von Stony Cross Park hatten mit sehr viel Anteilnahme auf ihre Erkrankung reagiert. Kendalls Strauß war nur einer von vielen Blumengrüßen, die sie erhalten hatte. Selbst Lord Westcliff hatte ein Bukett Treibhausrosen schicken lassen, mit den besten Genesungswünschen der Marsdens. Aber mit der Zeit kam sie sich mit den vielen Blumengebinden im Zimmer wie auf einer Beerdigung vor. Eigenartig, nur Simon Hunt hatte nichts von sich hören lassen, keine Zeile, nicht eine einzige Blume. Das hatte sie eigentlich nicht erwartet, nachdem er sich vor zwei Abenden so rührend und so besorgt um sie gekümmert hatte. Irgendetwas, eine Kleinigkeit nur, einen Beweis, dass er sich immer noch sorgte. Aber vielleicht hielt Mr. Hunt sie ja doch für eine dumme Person, die nur Ärger machte und nicht länger seiner Aufmerksamkeit wert war.
Wenn sich das als wahr herausstellte, wollte sie dankbar sein, nie wieder von ihm belästigt zu werden.
Plötzlich kamen ihr die Tränen. Sie verstand sich selbst nicht mehr, wusste nicht, weshalb sie mit einem Mal so rührselig war. Irgendwie sehnte sie sich nach etwas, was sie aber nicht zu beschreiben wusste. Was nur?
„Sehr seltsam!“ Philippa klang richtig perplex, als sie ins Zimmer zurückkam.
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