Geheimnisvoll und unwiderstehlich
die vor ihm stand. Stattdessen hatte sie sich in einen Morgenmantel gehüllt, der ziemlich abgetragen wirkte. Sie hatte das Haar mit einem alten Band zusammengebunden und sah blass und erschöpft aus.
Jetzt erkannte er auch, dass sie geweint haben musste, denn ihre Augen waren gerötet, und ihre Wimperntusche war völlig verschmiert. Sie sah so aus, als hätte sie versucht, sich zu schminken, und dann mittendrin aufgegeben.
Okay …
„Sind Sie bereit für den Ball, Miss Ryan?“, fragte er so munter, wie es ihm nur möglich war. „Interessantes Outfit, übrigens. Endlich mal etwas ganz Neues, wenn ich das sagen darf. Besonders die Pantoffeln gefallen mir sehr gut.“
Mimi blickte verwirrt auf ihre Füße und sah, dass sie noch immer ihre pinkfarbenen Pantoffeln mit den Hasenohren trug. „Oh“, sagte sie bestürzt. „Ist es denn schon so weit? Ich habe gar nicht gemerkt, wie die Zeit vergangen ist.“ Sie warf einen Blick auf die große Uhr im Flur und stöhnte. „So ein Mist! Jetzt werde ich auch noch zu spät sein.“ Kläglich sah sie Hal an und trat zur Seite. „Bitte, komm herein. Ich habe leider ein kleines Problem.“
„Ja, das sehe ich“, erwiderte er. „Kann ich dir irgendwie helfen?“
Mimi nickte – und dann geschah etwas Außergewöhnliches.
Sie streckte ihm die Hand entgegen, als ob sie ihn brauchen würde.
Sie brauchte ihn.
Hal ergriff ihre Hand und lächelte sie schwach an. Er wünschte sich, dass all seine Kraft in sie hineinfließen und ihren Kummer auflösen würde. Denn ihm war klar, dass etwas geschehen war, das sie aus der Balance geworfen hatte. Und ausnahmsweise war er bereit, zu warten, bis sie ihm von sich aus davon erzählte.
Mimi zog ihn in ihr Schlafzimmer. Der Boden war übersät mit Fotos, Schuhen, Kleidern und Taschen. Es herrschte ein unglaubliches Durcheinander.
Dieser Anblick sagte Hal mehr als tausend Worte. Offensichtlich war ihr die Situation völlig über den Kopf gewachsen.
Sie ließ sich aufs Bett fallen, und Hal nahm neben ihr Platz. Jetzt fielen ihm auch das Männerjackett und die Spitzendessous auf, die auf dem zweiten Kopfkissen lagen. Aber er sagte nichts dazu.
Vorsichtig legte er Mimi den Arm um die Taille und zog sie an sich. Sie schmiegte sich an ihn und lehnte den Kopf an seine rechte Schulter.
Hal schloss die Augen und hielt sie ganz fest. Er atmete ihren Duft tief ein und lauschte der klassischen Musik, die im Hintergrund lief. Die Zeit schien stillzustehen. Er wusste, dass er Mimi jetzt nicht bedrängen durfte. Nicht jetzt. Sie bedeutete ihm viel zu viel, als dass er diesen Moment durch Diskussionen hätte zerstören wollen.
„Ist dir eigentlich klar, dass dies unser erstes Jubiläum ist?“, fragte er schließlich mit leiser Stimme. „Heute vor einer Woche war ich daran schuld, dass du deinen Kaffee verschüttet hast. Hast du mir inzwischen eigentlich verziehen?“
Mimi schnüffelte und schüttelt den Kopf. „Nein, überhaupt nicht“, flüsterte sie mit bebender Stimme.
Hal lächelte. Die alte Mimi war also noch da.
„So ein Mist! Ich dachte, ich hätte inzwischen einiges wiedergutgemacht.“
Mimi drehte sich in seinen Armen zu ihm um. Als er in ihre Augen sah, die voller Trauer waren, fühlte er sich plötzlich in einer Weise mit ihr verbunden, dass er vollkommen sprachlos war.
„Natürlich hast du inzwischen alles wiedergutgemacht. Das steht doch außer Zweifel.“
Bewegt nahm er ihre Hände in seine und sagte behutsam: „Dann erzähl mir doch, was dich so aus der Fassung gebracht hat. Bitte, vertrau mir!“
Mimi zögerte kurz und gab sich dann einen Ruck. „Ich wollte eine Abendtasche meiner Mutter tragen. Und als ich sie aufmachte, fand ich das hier.“
Sie griff in die Tasche ihres Morgenmantels und zeigte Hal den Schnappschuss eines schlanken, attraktiven jungen Mannes. Er hatte dunkle Haare und grüne Augen und trug das Jackett, das jetzt auf dem Bett lag.
„Das ist mein Dad“, sagte Mimi mit erstickter Stimme. „Ein Jahr vor seinem Tod hat meine Mum dieses Jackett für ihn machen lassen.“ Erneut lehnte sie ihren Kopf an seine Schulter und seufzte tief.
„Ich wusste gar nicht, dass sie das Jackett behalten hatte, bis ich anfing, mir für heute Abend ein Kleid herauszusuchen, in das ich mich hineinquetschen könnte.“
Traurig betrachtete Mimi das Foto.
„Für die Familie meiner Mutter ist er immer ein Außenseiter geblieben. Ein Außenseiter, der nie zu ihrem Clan gehören würde – egal, wie talentiert
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