Geheimnisvolle Beruehrung
Auge abrollten.
Kaleb tippte an das Glas in ihrer Hand und wartete, bis sie es zur Hälfte geleert hatte. »Das war mit sechzehn, noch vor der endgültigen Einordnung. Vermutlich liegst du inzwischen zwischen neun Komma fünf und neun Komma sieben.«
»Hast du mich deshalb geholt?«, fragte sie mit einem Kloß im Hals. »Soll ich für dich in die Vergangenheit sehen?« Die Augen auf das scharf geschnittene Kinn gerichtet, spreizte sie die Finger auf dem Tisch.
»Weder brauche ich eine R-Mediale, noch habe ich Verwendung dafür.«
Aber vielleicht für die gefährliche, verborgene Gabe, die unerkannt für die Tester der eigentliche Grund für ihre hohen Werte auf der Skala war. Ihre Fähigkeit, zurückliegende Ereignisse zu sehen, lag höchstens bei drei. Doch der Fehler sagte nichts über die Fähigkeiten der Tester aus, sondern bewies eher, wie tief verborgen jene andere Seite von ihr war – sie selbst hatte die Gabe erst mit zwölf entdeckt. Und sofort gelernt, sie zu verbergen, damit sie kein Ziel abgab.
»Warum bin ich dann hier?«, fragte sie Kaleb. Sie stellte die Frage, obwohl sie hundertprozentig sicher war, dass er wusste, was sie tun konnte. Es konnte keinen anderen Grund dafür geben, dass er solche Mühen aufgewandt hatte, um sie zu suchen und zu sich zu holen.
Wieder verschwanden die Sterne aus seinen Augen, breitete sich die Nacht aus, in der sie zu verschwinden drohte, als er aufstand und sich über den Tisch beugte – so nah, dass sie seine Wange hätte berühren können. »Du bist hier«, sagte er in einem Ton, bei dem ihr fast das Herz aus der Brust sprang, »weil du mir gehörst.«
Zehn Minuten später saß Sahara auf ihrem Bett, und Kalebs Worte blinkten immer wieder wie eine Leuchtschrift in ihrem Kopf auf. Den Sinn dahinter hatte sie nicht verstanden. Etwas allerdings war klar:
Sie durfte das Haus nicht verlassen. Und sie durfte auch nicht ins Medialnet.
Eigenartig ruhig nahm sie diese Gegebenheiten in sich auf und kam zu dem Schluss, dass sie im Augenblick weder das eine noch das andere wollte. Sobald sie sich aus dem Obsidianschild hinausbegäbe, wäre ihr Geist bloß und verletzlich. Noch dazu wusste sie nicht, wohin sie sich wenden konnte oder was sie nach ihrer Flucht tun sollte. Die Nähe zu ihren Gefühlen, die dazu geführt hatte, dass sie die ganze Welt nur noch verschwommen wahrnahm, bewies doch, dass ihr Geist nach wie vor verletzt war, ihre Gedanken immer noch durcheinandergerieten.
NightStar.
Dort konnte sie vielleicht Schutz finden, doch so bruchstückhaft wie ihr Gedächtnis war, konnte sie nicht wissen, ob ihr Clan nicht mit den Wärtern zusammengearbeitet und sie zerstörender Einsamkeit preisgegeben hatte, um sich ihre Fähigkeiten zunutze zu machen. Die Wärter hatten sie weder wie eine Person noch wie ein fühlendes Wesen behandelt. Nur wie einen namenlosen Auftrag.
Hätte sich das Labyrinth entwirrt, wenn man ihr nur ein wenig Freundlichkeit entgegengebracht hätte? Das würde sie nie erfahren, denn kaum hatte die Person, die ihre Inhaftierung angeordnet hatte, das Labyrinth entdeckt, waren die normalen Wärter, die ab und zu noch mit ihr gesprochen hatten, durch Männer und Frauen ersetzt worden, die so eiskalt in Silentium waren, dass ihnen nie in den Sinn gekommen wäre, von ihren Aufgaben abzuweichen … ganz egal, ob es dabei um Zwangsernährung ging oder darum, sie splitternackt auszuziehen und die Raumtemperatur auf den Gefrierpunkt einzustellen.
Kaleb dagegen hatte ihr bisher noch kein Leid angetan. Sie hatte ihre Privatsphäre, verfügte über saubere Kleidung und Wasser, bekam Essen, das köstlich schmeckte und ihre geschundene Seele erzittern ließ. Ihr gebrochenes Silentium hatte er weder erwähnt noch geprüft. Es wäre dumm und unreif, seinen Schutz zu verlassen, solange sie noch nicht besser beisammen war, um Freund von Feind unterscheiden zu können.
Was Kaleb selbst anging … so löste er verwirrend schmerzhafte Empfindungen in ihr aus. Selbst in diesem Augenblick spürte sie heftige Trauer in der Brust, die nur darauf wartete, dass sie sich ihr vollkommen grundlos hingab. Man musste doch jemanden kennen, wenn man um ihn weinte, doch Kaleb war ein Fremder … der freilich wusste, dass sie Getränke mit Kirschgeschmack mochte und schneller Kälte spürte als andere. Natürlich war ihr aufgefallen, dass im ganzen Haus eine Temperatur herrschte, bei der sie sich wohlfühlte.
Sahara holte tief Luft, um nicht sofort zu Kaleb zu gehen und
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