Geheimnisvolles Vermächtnis (German Edition)
nickte. »Wir sind es zwar gewohnt, zusammen zu sein, aber solange ich weiß, dass sie in guten Händen ist, und wir uns ab und zu sehen könnten … « Sie berührte Lily an der Schulter und hoffte inständig, dass ihre Schwester jetzt nicht irgendetwas Unangebrachtes sagte oder tat. »Würde dir das gefallen, Lily, die Aufgaben eines Dienstmädchens zu lernen?«
Lily schaute von ihrer Schwester zu den Unwins und wieder zurück. Sie wollte nicht getrennt von Grace leben, doch es schien, als stünde die Möglichkeit zusammenzubleiben nicht zur Wahl. Und alleswäre besser, als noch einmal eine Nacht in dem Lagerhaus zu verbringen.
»Wir könnten dir aber nicht viel zahlen«, beeilte sich Mrs Unwin hinzuzufügen. »Da keine von euch beiden irgendeine Ausbildung besitzt, wäre es ja für euch beide eine Art Lehre. Ihr würdet natürlich Kost und Logis bekommen, und vielleicht jede einen Shilling pro Woche.«
Grace lächelte vor lauter Erleichterung und Dankbarkeit. Sie glaubte sich zu erinnern, dass Mrs Unwin in Brookwood eine Summe von fünf Shilling erwähnt hatte, und zwar für einen einzigen Auftritt als Sargbegleiterin bei einem Begräbnis, aber egal, Hauptsache, sie waren von der Straße weg, hatten ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen. Und die Vorstellung, dass Lily Unterkunft, Essen und sogar noch eine Ausbildung als Dienstmädchen erhalten sollte – das war mehr, als Grace je zu hoffen gewagt hätte.
»Wenn ihr euch dann voneinander verabschieden wollt. Ich werde Rose bitten, deine Schwester durch den Park nach Kensington hinüberzubegleiten.« Sie blickte sich um. »Wo sind eure Sachen?«
»Wir schicken später danach«, sagte Grace.
Als Mr und Mrs Unwin sich in einen anderen Raum zurückgezogen hatten, fasste Grace Lily an den Händen. »Du bekommst jetzt eine richtige Chance, die Aufgaben eines Dienstmädchens zu erlernen«, sagte sie. »Tu alles, was man dir aufträgt, arbeite so hart, wie du kannst, und sei immer guten Willens undhöflich. Es wird nicht ewig dauern. Wir müssen beide so viel sparen, wie wir können, und hoffentlich sind wir dann eines Tages, bald schon, wieder zusammen.«
Lily küsste ihre Schwester ziemlich aufgeregt auf beide Wangen und versprach, alles gut zu machen. Diesmal war es zur Abwechslung einmal Grace, die weinte.
BARKER’S
– DER CLUB FÜR GENTLEMEN MIT NIVEAU
KOLONIALER PRUNK
IM HERZEN DES LONDONER ST.-JAMES-VIERTELS
DER INBEGRIFF VON VORNEHMHEIT UND ELEGANZ
FÜR ALLE, DIE DIE KULTIVIERTEN DINGE DES LEBENS
ZU SCHÄTZEN WISSEN
EXKLUSIVE AUSSTATTUNG EINSCHLIESSLICH HUMIDOR
UND BILLARDZIMMER
Kapitel 12
Mr George Unwin hatte seinem Cousin eine Nachricht mit der dringenden Bitte gesandt, sich mit ihm am Nachmittag auf ein Schnäpschen bei Barker’s zu treffen. Als sein Trinkgeselle eintraf, hatte der Bestatter bereits einen doppelten Scotch geleert.
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte sein Cousin und wedelte mit der Zigarre vor dem leeren Glas herum. »Gibt es was zu feiern?«
»Und ob!«, sagte George Unwin. »Oh, und ob es was zu feiern gibt.«
»Nun, was ist es? Ein neuer Choleraausbruch in London? Allerorts Massenbegräbnisse?«
»Noch besser!« Er strahlte wie ein Honigkuchenpferd vor lauter Stolz über seine Neuigkeiten. »Ich hab sie erlegt!«
»Wen erlegt?«
»Die zwei Täubchen.«
Sein Cousin machte sich daran, seine Zigarre abzuschneiden. »Wusste gar nicht, dass du unter die Jäger gegangen bist. Und wo gehst du so auf die Pirsch?«
»Nicht
wörtlich
, mein Alter. Ich hab die zwei Erbinnen gefunden!«
»Was?« Er ließ die Zigarre sinken. »Die legendäre Mrs Parkes und ihre Tochter?«
»Beinahe«, erwiderte George Unwin. »Die Mutter sieht sich inzwischen die Radieschen von unten an, und offenbar gibt es noch ein weiteres Kind, von dem der Vater nichts wusste – es kam erst nach seiner Abreise auf die Welt.«
»Hol mich der Teufel!«, rief sein Gegenüber staunend aus.
»Und es kommt noch besser: Zumindest eine der beiden ist schwachköpfig.«
»Das wird ja immer schöner. Und wo stecken die beiden jetzt? Du hast sie doch hoffentlich brav unter Verschluss?«
»Worauf du dich verlassen kannst. Hab sie direkt unter meiner Nase: als Angestellte der Unwin-Familie. Diskretion ist unser Motto, nicht wahr?«
»Wie wahr, mein Lieber, wie wahr!« Mit einem genüsslichen Lächeln auf den Lippen machte er sich wieder an seine Zigarrenzeremonie, schnitt das Ende ab und tippte es ein paar Mal flach auf den Marmortisch.
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