Geheimnisvolles Vermächtnis (German Edition)
sechs Tage davor pausenlos von früh bis spät gearbeitet, und trotz ihrer Sorge um Lily war Grace am Abend immer zu erschöpft gewesen, um noch den langen Fußmarsch im Dunkeln zum Kensington-Haus der Unwins zu unternehmen und nach ihrer Schwester zu sehen.
Nun stand sie nach ihrem Gespräch mit Mrs Beaman zutiefst verstört vor der verschlossenen Hintertür des Hauses. Wie konnte denn Lily einfach weglaufen, ohne ihr etwas zu sagen? War das überhaupt möglich? Lily machte zwar manchmal dumme Sachen, doch nie hatte sie auch nur die geringste Neigung gezeigt, mit jungen Männern zu flirten oder auf deren Flachsereien einzugehen. Und dass sie womöglich gar einen gut genug kennengelernt hätte, um mit ihm durchzubrennen – nein, das war einfach nicht vorstellbar!
Grace ging seitlich um das Haus herum zur Straße zurück. Die Fassade des Unwin-Hauses war mit allem erdenklichen Trauerstaat dekoriert: Ein Lorbeerkranz mit schwarzem Band hing an der Tür und die Hecken vor dem Haus waren mit schwarzem Musselin bedeckt. Wäre die Eingangstür geöffnet worden, so hätte ein Betrachter sehen können, dass der Spiegel in der Diele von schwarzen Stoffbahnen eingerahmt war, ebenso wie eine Tafel mit dem königlichen Wappen(das bei den Unwins eigentlich überhaupt nichts zu suchen hatte) – als ob die Familie mit Prinz Albert eng verwandt gewesen wäre.
Die Vorhänge des Salons an der Vorderseite des Hauses waren natürlich zugezogen, bewegten sich jedoch ein wenig, als Grace vorbeiging, und plötzlich sah sie das Gesicht eines jungen Mädchens zu ihr herausspähen. Der Blick des Mädchens begegnete ihrem, dann bewegte sich der Vorhang erneut, und das Gesicht war verschwunden. Grace war sich absolut sicher, dass es sich um Charlotte Unwin gehandelt hatte. Etwas an ihrem Gesichtsausdruck, an der hastigen, verstohlenen Art ihres Verschwindens vom Fenster ließ Grace erst recht nachdenklich werden. Sie war sich sicher, dass man ihr hinsichtlich Lilys Verschwinden eine Lüge aufgetischt hatte. Niemals würde ihre Schwester einfach weglaufen, ohne es ihr zu sagen.
Sie musste zur Polizei gehen und Lily als vermisst melden, überlegte Grace, hatte allerdings kein gutes Gefühl dabei, denn die Polizei und die Armen Londons lagen notorisch im Streit miteinander, und sie konnte sich nicht vorstellen, dass ein Polizist ihr tatsächlich helfen würde. Aber was konnte sie sonst tun? In der
Times
eine Vermisstenanzeige aufgeben, sofern sie das Geld dafür aufbringen konnte – aber Lily konnte ja nicht einmal lesen. Da wäre es vielleicht doch eine bessere Idee, James Solent um Rat zu fragen. Grace hatte vor kurzem an ihre letzte Begegnung mit ihm denken müssen und daran, wie ernst es ihmanscheinend damit gewesen war, ihr helfen zu wollen. Genau, als ein Mann des Rechts würde James Solent bestimmt wissen, was im Falle einer vermissten Person zu unternehmen war.
Aber wann sollte sie ihn aufsuchen? An diesem Tag, wo ganz England trauerte, war er sicherlich nicht bei der Arbeit, und am folgenden Tag war Heiligabend, und da wäre seine Kanzlei ganz bestimmt auch nicht geöffnet. Sie könnte ihn also frühestens am Tag nach Weihnachten erreichen, und bis dahin konnte Lily weiß Gott wo sein.
Von einer nahen Kirche erklang die Totenglocke, und Grace zitterte, teils wegen des bedrückenden Klangs dieses Geläuts, teils aus schierer Kälte.
»Lily, wo du auch bist«, flüsterte sie, »gib auf dich acht.«
Für
ABENDGESELLSCHAFTEN
in der Stadt und
auf dem Land besucht sie persönlich Mr Henry Boot
mit seiner ausgiebigen Sammlung von
ZAUBERTRICKS
– eine brillante und verblüffende neuartige Séance.
Gehobene Unterhaltung garantiert!
Kapitel 22
Am Weihnachtstag verteilten die Unwins unter all jenen in der Edgeware Road, die nicht zu ihren Familien heimkehrten, einen Plumpudding, doch Grace war so in Sorge um Lily (Ob sie wohl genug zu essen hatte? Ob sie es warm hatte? Wurde sie womöglich gegen ihren Willen festgehalten?), dass sie einfach keinen Appetit verspürte und ihre Portion schließlich unter den Stallburschen aufgeteilt wurde.
Am zweiten Weihnachtsfeiertag, an dem es Brauch war, die Bedürftigen zu beschenken, erhielten die Arbeiterinnen des Unwin-Unternehmens zwei Leinentaschentüchlein und ein Stück groben Stoff für eine Arbeitsschürze; die Männer erhielten Taschentücher und eine winzige Flasche Whiskey. Verteilt wurdendiese Geschenke von Miss Charlotte Unwin – mit rosigen Wangen, nach Parfum duftend und in
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