Geheimnisvolles Vermächtnis (German Edition)
fragte James. »Von wo?«
»Sie hat für die Unwins in ihrem Privathaus in Kensington als Dienstmädchen gearbeitet«, erzählte Grace. Auf einmal verließ sie ihr Mut, und sie fing an zu weinen, bevor sie hinzufügte: »Und letzte Woche war ich dort, um sie zu besuchen, und da hieß es plötzlich, sie sei fort.«
»Verstehe. Und als du gefragt hast, wohin, was hat man dir da gesagt?«
»Dass sie sich mit einem jungen Mann angefreundet hätte und wahrscheinlich mit ihm weggelaufen sei.«
»Und du glaubst nicht, dass das stimmt?«
»Das kann nicht stimmen!« Grace schüttelte heftig den Kopf. »Meine Schwester würde niemals weglaufen, ohne mit mir zu reden. Sie … sie ist ein einfaches Mädchen und manchmal recht leichtgläubig, aber sie würde nicht einfach so verschwinden.«
»Aber es wäre doch nur allzu verständlich, wenn sie jemanden kennenlernt und … «
»Das würde sie nie tun!«, brach es aus Grace heraus. »Meine Schwester ist ein sehr zurückhaltendes Mädchen. Und sie mag Männer generell nicht sehr, weil sie einmal … weil wir beide einmal in einem Heim eine Erfahrung … « Grace konnte den Satz nicht zu Ende bringen. Sie schluckte angestrengt und versuchte, die Erinnerung an ihr qualvolles Erlebnis zu verdrängen. Eine Weile konnte sie nicht sprechen.
»Nun«, sagte James. »Dann lass uns überlegen, was für andere Erklärungen es geben könnte. Ich bin nicht gerade ein Bewunderer von Leuten im Bestattungsgewerbe – schon gar nicht den Unwins, die mehr als alle anderen ihr Geschäft damit zu machen scheinen –, aber warum sollten sie mit dem Verschwinden deiner Schwester etwas zu tun haben?«
Grace blickte ihn an. »Ich befürchte, dass sie sie zu unmoralischen Zwecken entführt haben«, sagte sie und wurde dabei feuerrot. »Ich habe gehört, dass es Häuser gibt, in denen Frauen festgehalten werden, um die Bedürfnisse der Männer zu befriedigen. Vielleicht halten sie sie gegen ihren Willen in so einem Haus fest.«
James Solent schüttelte sogleich den Kopf. »Nein, nein. Ich bin sicher, dass es das nicht ist, denn selbst die Unwins haben einen Namen zu verlieren und würden keinesfalls riskieren, mit so etwas Skandalösem in Verbindung gebracht zu werden.« Er überlegte eineWeile. »Es ist beunruhigend, wenn Menschen, denen wir nahestehen, sich von uns entfernen, aber ich bin mir sicher, deiner Schwester geht es gut, und sie wird zu gegebener Zeit mit dir Kontakt aufnehmen.«
Grace schwieg und kämpfte mit den Tränen. Sie war sich so sicher gewesen, dass James ihr helfen würde, aber er schien nicht zu verstehen.
»Danke, dass du mir zugehört hast«, sagte sie, als sie sich wieder unter Kontrolle hatte. »Ich muss jetzt zurück, bevor die Unwins bemerken, dass ich nicht da bin.«
»Lässt du es mich wissen, wenn du etwas von ihr hörst?«
»
Falls
ich etwas von ihr höre«, sagte Grace. »Wobei ich nicht weiß, wie ich eine Nachricht von ihr bekommen sollte, wo Lily doch nicht einmal ihren eigenen Namen schreiben kann –«
»Deine Schwester heißt Lily?«, fragte James plötzlich aufhorchend.
»Ja. Habe ich das noch nicht gesagt?«
James neigte den Kopf zur Seite und blickte Grace gespannt an. »Sie heißt nicht rein zufälliger- und höchst unwahrscheinlicher Weise Lily Parkes?«
Grace nickte. »Doch. Woher wusstest du das?«
»Lily Parkes!«, wiederholte James mit lauter Stimme. »Ist das zu glauben! Und du bist ihre Schwester.«
»Das bin ich.«
»Und deine Mutter – deine Mutter ist tot, hast du mir, glaube ich, erzählt. Und wie hieß sie?«
»Mamas Vorname war Letitia.«
James stieß einen fassungslosen Ausruf aus. »Und dein Vater hieß Reginald?«
»Ja«, antwortete Grace überrascht. »Aber ich vermute, dass auch er tot ist. Ich habe ihn nie kennengelernt – ich kam erst auf die Welt, nachdem er schon fort war.« Dann fügte sie noch hinzu: »Er wusste gar nichts von meiner Existenz.«
James atmete tief durch. Dann fasste er Grace an beiden Händen und blickte sie eindringlich an. »Grace Parkes, du musst dich auf einen ziemlichen Schock gefasst machen.«
Grace brach in Tränen aus. »Lily ist tot! Du hast gehört, dass sie tot ist?«
»Nein, ganz und gar nicht! Ich weiß nichts über deine Schwester – außer der Tatsache, dass die gesamte Londoner Anwaltschaft über sie spricht.«
»Über meine Schwester?«
»Über sie spricht, nach ihr sucht, Spekulationen über die gesuchte Lily Parkes und ihre Mutter anstellt.«
»Aber warum
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