Geheimsache Labskaus
Oskars Lage etwas kniffliger. „Bloß nicht runtergucken“, dachte er und zog einmal prüfend am Rohr. Es ächzte leise, und die Verankerungen knirschten verdächtig. Aber Oskar hatte keine andere Wahl: Er stieß sich mit den Füßen vom obersten Regalboden ab. Handbreit um Handbreit arbeitete er sich vor, dem Fenster entgegen.
„Super, Oskar“, feuerte Zack ihn an. „Weiter so!“ Oskar kam sich vor wie im Sportunterricht. Nur schlimmer. Das Metallrohr war ganz offensichtlich nicht dafür gebaut, dass man an ihm Turnübungen vollführte: Es knarzte jetzt hörbar unter seinem Gewicht, als wollte es sich beschweren. „Dranbleiben!“, hörte er Zack aus der Tiefe. Oskars Hände waren taub vor Anstrengung. Er kämpfte sich immer weiter das Rohr entlang, das jetzt furchterregend schwankte.
„Noch dreimal umgreifen, dann bist du da!“
Oskar griff. Einmal. Zweimal. Dreimal. Mit letzter Kraft schwang er seine Beine auf den Fenstersims und lehnte sich mit dem Rücken gegen das Glas. Er blickte zum ersten Mal nach unten zu Zack – und sah gleich wieder weg. Dieses Fenster war wirklich verdammt hoch oben.
„Wieso hast du eigentlich nur eine Drei in Sport?“, fragte Zack. „Das war echt olympiareif! Mach schnell das Fenster auf, da draußen ist bestimmt eine Feuerleiter oder so was!“ Oskar tastete hinter sich nach dem Fenstergriff. „Zack.“
„Was ist?“
„Das Fenster geht nicht auf. Es hat gar keinen Griff.“
Zack stöhnte. „Du musst es einschlagen!“
„Was?! Ich bin doch kein Randalierer!“, protestierte Oskar. Da klingelte sein Telefon. Erschrocken zuckte Oskar zusammen, um ein Haar hätte er den Halt verloren. Ein dünner Balken in seinem Display zeigte, dass es zumindest einen Hauch von Kontakt zur Außenwelt hatte. Offenbar war der Fenstersims der einzige Ort im Labor, an dem man telefonieren konnte. Neben dem Balken stand der Name des Anrufers. Charlie. „Hallo!“, meldete er sich, noch ganz außer Atem von der Kletterei.
Charlies aufgeregte Stimme schallte laut in sein Ohr. „Oskar, ich glaube, Zacharias ist in Gefahr! Er wurde heute Nachmittag für medizinische Experimente abgeholt! Die wollen an ihm rumdoktern und ihm irgendwelche Drogen einflößen!“
Oskar freute sich unendlich, ihre Stimme zu hören. Woher wusste Charlie das alles? Für Fragen war keine Zeit. Stattdessen sagte er schnell: „Wir müssen den Beißer vor den Aalen retten. Hol uns hier raus!“
„Wen? Was für Aale? Oskar, wir müssen unbedingt meinen Bruder finden!“
„Zack ist hier bei mir. Wir sind in der Uniklinik eingesperrt und –“
„Wie geht es ihm? Ich will mit ihm reden!“, unterbrach Charlie aufgebracht.
„Charlie, das geht nicht. Er hat keinen Handyempfang.“
„Ich dachte, er ist bei dir?“
„Ja, aber …“ Oskar kam ins Stocken. Das alles war viel zu kompliziert.
„Haben die ihm Medikamente gegeben?“
„Zack geht es prima“, log Oskar und blickte auf seinen Freund hinab. Der saß im Schneidersitz auf dem Bürostuhl und hielt sich tapfer die Schulter.
„Aber Elektra sagt, die haben ihn abgeholt! Sie steht neben mir, und sie ist sich ganz sicher, dass Zacharias in äußerster Gefahr schwebt!“
Elektra! Wie hatte die bloß von der Sache Wind bekommen? „Ich hab jetzt keine Zeit, alles zu erklären.“ Oskar zwang sich dazu, mit ruhiger Stimme zu reden. Dabei war ihm vor Ungeduld nach Schreien zumute. Womöglich wurde der Beißer gerade von Killer-Aalen zerfleischt, während sie hier kostbare Zeit verquatschten. „Charlie, wir müssen hier raus, sonst bringen Dose und Kurz den Beißer um! Und als Nächstes uns!“
„Ich versteh kein Wort.“ Charlie klang verwirrt.
„Hör mir zu!“, sagte Oskar eindringlich. „Wir haben nur wenig Zeit. Bitte tu jetzt genau, was ich sage!“
„Okay.“
„Zack und ich sind in der Uniklinik eingesperrt. Im Forschungsgebäude, im ersten Kellergeschoß. Wir sitzen im Laborraum neben Doktor Kurz’ Büro fest. Ihr müsst uns hier so schnell wie möglich rausholen. Denn die Typen, die den Beißer, ich meine: den Pudel gekidnappt haben, sind gerade mit ihm verschwunden, um ihn zu verfüttern. Um ihn zu töten, verstehst du? Wir müssen sie aufhalten!“
„Alles klar“, sagte Charlie. Plötzlich war sie ganz bei der Sache.
Oskar beschrieb ihr den Weg zum unterirdischen Labor.
„Beeilt Euch“, sagte er noch.
Aber da hatte Charlie schon aufgelegt.
Freitag, 24. Juli, 20.21 Uhr
Paloma Hansen lag an diesem Abend auf ihrem Ledersofa
Weitere Kostenlose Bücher