Geheimsache Labskaus
und langweilte sich entsetzlich. Vor einer Stunde hatte sie noch gedacht, ein Handwerker bearbeite ihren Schädel mit einer Bohrmaschine. Jetzt begannen die Schmerztabletten zu wirken. „Alles nur halb so schlimm“, dachte die Heimleiterin. Sie wusste nicht so recht, was sie mit dem Rest des Abends anfangen sollte. Wäre Raissa jetzt hier, könnte sie die Zeit mit einem Hundespaziergang um die Alster verbringen. Aber ihr Liebling war ja in der Gewalt irgendwelcher Erpresser. Die Heimleiterin wusste, dass sie hoch pokerte: Wenn die Übeltäter Raissa wirklich etwas antaten – das würde sie sich nie verzeihen. Aber ebenso wenig, wenn die Polizei von ihrem kleinen Trick mit den Semmelbröseln und dem Altöl Wind bekäme! Wenn den Gesetzeshütern die Erpresserbriefe in die Hände geriet, würden sie sehr unangenehme Fragen stellen. „Frau Hansen, was bedeuten diese Briefe, was ist denn mit Ihrem Abwasser los?“, würden die Beamten wissen wollen. Und als Nächstes käme: „Wir müssen leider Ihre Labskaus-Küche durchsuchen, um Hinweise auf die Täter zu finden.“ Dann würden die Beamten in der Vorratskammer auf die Kartons mit den rot eingefärbten Fleischersatz-Fladen stoßen. Und alles wäre verloren. Die Heimleiterin setzte sich energisch auf. Nur keine trüben Gedanken! Solange Zacharias Pollack in Einzelunterbringung war, konnte er kaum ausplaudern, was er über die Erpressung wusste. Und so lange würde auch die Polizei nicht auf dumme Ideen kommen.
Paloma Hansen rieb sich die Schläfe. Es tat wirklich fast nicht mehr weh. Der ganze Abend lag noch vor ihr, und sie wollte sich heute etwas besonders Schönes gönnen. Aber was? Ins Kino gehen? Das Tanzbein schwingen? Paloma Hansen bemerkte, dass Freizeit ohne Freunde eine äußerst trübsinnige Angelegenheit war. „Da kann ich ja genauso gut wieder ins Heim zurück“, dachte sie. Und genau das tat sie dann auch.
Wie immer fuhr sie mit ihrem Audi-Coupé viel zu schnell. Kurz bevor sie das Heim erreicht hatte, zwang sie jedoch ein Hindernis zum Abbremsen: Ein VW-Bus war am Straßenrand liegen geblieben und versperrte die rechte Fahrbahn. Während Hansen einen Gang herunterschaltete und die Spur wechselte, sah sie, wie ein hagerer Mann den Reifen wechselte, während ein kleiner dicklicher tatenlos daneben stand. „Mein Wagen muss auch mal wieder in die Inspektion“, dachte sie und trat mit spitzem Stöckelschuh aufs Gaspedal.
In ihrem Büro griff sie sich einen dicken Stapel unerledigter Akten und vertiefte sich in ihre Arbeit. Ein Klopfen an der Tür ließ sie hochschrecken. „Ja bitte!“, rief Paloma Hansen unfreundlich.
Peter Anderling trat ein. Er sah ungewohnt fröhlich aus und ein bisschen aufgeregt. „Frau Direktorin Hansen, Sie sind zurück!“
Hansen schwieg. Das wusste sie selbst.
„Ähem … also es hat hier interessante Entwicklungen gegeben“, fuhr Anderling etwas weniger forsch fort, „während ich das Kommando hatte!“
„Aha“, sagte Hansen.
Anderling war ein bisschen entmutigt von Hansens gleichgültigem Ton. Die würde sich wundern, wenn sie hörte, was er hier in die Wege geleitet hatte! „Es geht um den schwererziehbaren Einbrecher und Hundedieb Zacharias Pollack.“
Jetzt sah Hansen interessiert auf. „Was ist mit ihm?“
„Der wird künftig kein Problem mehr sein!“
Hansen verstand kein Wort. „Kommen Sie auf den Punkt, Anderling.“
„Ich bin eine Zusammenarbeit mit der Wissenschaft eingegangen“, sagte Anderling stolz.
„Was?!“
„Die Hospitalklinik Winsen an der Luhe hat ein neues Medikament entwickelt, für Schwererziehbare. Und das probieren sie jetzt aus.“
„Und was hat das mit Pollack tun?“, wollte Hansen wissen.
„Ja, also, er ist der, an dem sie es ausprobieren.“
Hansen schüttelte den Kopf. „Das können Sie vergessen, Anderling. Dafür braucht man die Erlaubnis der Erziehungsberechtigten.“
Anderling strahlte. „Die war gar nicht notwendig! Da waren die Herren der Klinik ganz unkompliziert. Morgen bringen sie ihn zurück, und wir werden unseren Zacharias nicht wiedererkennen, so brav wird der sein!“
Hansen starrte ihn an. Langsam begann sie zu begreifen. Sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen. „Anderling.“ Einatmen. Ausatmen. „Wollen Sie damit sagen, Sie haben Zacharias Pollack aus der Einzelunterbringung entlassen?“ Einatmen. Ausatmen.
„Genau!“
„Wo ist er?“, fragte Hansen lauernd.
„In Winsen an der Luhe natürlich!“, erwiderte Anderling. Wieso war
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