Gehetzte Uhrmacher
wünscht. Das ist in Ordnung und nichts Unmoralisches, denn so funktioniert unser System nun mal. Aber etwas ließ mir keine Ruhe: Falls ich dieses Verhör durchgeführt hätte, wäre Hanson ins Gefängnis gekommen, und seine drei Opfer hätten nicht sterben müssen.
Zwei Tage später habe ich mich an der Akademie eingeschrieben, und der Rest ist Geschichte, wie man so schön sagt. Und wie lautet Ihre Ausrede?«
»Warum ich beschlossen habe, Polizist zu werden?« Er zuckte die Achseln. »Bei mir war es längst nicht so dramatisch. Eigentlich sogar langweilig... ich bin einfach in die Sache reingestolpert.«
»Wirklich?«
Rhyme lachte.
Dance runzelte die Stirn.
»Sie glauben mir nicht.«
»Tut mir leid, hab ich Sie angestarrt? Manchmal vergesse ich mich. Meine Tochter behauptet, ich würde sie mitunter ansehen, als wäre sie eine Laborratte.«
Rhyme trank einen Schluck Scotch und lächelte zurückhaltend. »Und?«
Sie hob eine Augenbraue. »Und?«
»Für eine Kinesik-Expertin muss jemand wie ich eine harte Nuss sein. Sie werden nicht so recht aus mir schlau, richtig?«
Sie lachte. »Oh, da irren Sie sich. Die Körpersprache sucht sich ihr eigenes Ventil. Sie lassen über Ihr Gesicht, die Augen und den Kopf ebenso viel erkennen wie jemand, der den ganzen Körper einsetzen kann.«
»Ehrlich?«
»So läuft das nun mal. Bei Ihnen ist es eher noch einfacher abzulesen – die Signale konzentrieren sich auf einen kleineren Bereich.«
»Ich bin ein offenes Buch, ja?«
»Niemand ist ein offenes Buch. Aber manche Bücher lassen sich einfacher lesen als andere.«
»Ich erinnere mich an die verschiedenen Reaktionsphasen der Zeugen und Verdächtigen, die Sie erwähnt haben: Wut, Niedergeschlagenheit, Verleugnung, Aushandeln... Nach dem Unfall wurde ich einer ausgiebigen Therapie unterzogen. Ich wollte nicht, aber wenn man flach auf dem Rücken liegt, kann man sich kaum dagegen wehren. Die Psychiater haben mir von den Stadien der Trauer erzählt. Das sind mehr oder weniger die Gleichen.«
Kathryn Dance hatte die Stadien der Trauer am eigenen Leib erfahren. Aber sie wollte auch jetzt nicht darüber reden. »Es ist faszinierend, wie der Verstand mit Notlagen umgeht – ob es sich nun um eine körperliche Beeinträchtigung oder um emotionalen Stress handelt.«
Rhyme wandte den Blick ab. »Ich habe oft mit Wut zu kämpfen.«
Dance behielt die tiefgrünen Augen auf Rhyme gerichtet und
schüttelte den Kopf. »Oh, Sie sind längst nicht so wütend, wie Sie tun.«
»Ich bin ein Krüppel«, widersprach er heftig. »Natürlich bin ich wütend.«
»Und ich bin eine Frau bei der Polizei. Also haben wir beide das Recht, hin und wieder stocksauer zu sein. Oder aus allen möglichen Gründen niedergeschlagen. Und wir verleugnen das eine oder andere. Aber Wut? Nein, nicht Sie. Sie sind längst weiter. Im Stadium der Akzeptanz.«
»Wenn ich nicht irgendwelche Mörder jage« – er nickte in Richtung der Wandtafel -, »absolviere ich eine Physiotherapie. Viel häufiger, als ich eigentlich sollte, sagt Thom. Bis zum Erbrechen, nebenbei bemerkt. Das deutet wohl kaum darauf hin, dass ich mich mit irgendwas abgefunden habe.«
»Das ist es auch nicht, was Akzeptanz meint. Sie akzeptieren Ihren Zustand und tun etwas dagegen. Sie sitzen nicht den ganzen Tag nur herum. Oh, Verzeihung, das tun Sie doch.«
Es war nicht als eine Entschuldigung gemeint. Rhyme konnte nicht anders – er brach in schallendes Gelächter aus. Dance sah, dass er ihr den Witz keineswegs verübelte. So hatte sie Rhyme auch eingeschätzt. Er hielt nichts von Takt und politischer Korrektheit.
»Sie akzeptieren die Realität. Sie versuchen, sie zu ändern, aber Sie machen sich nichts vor. Es ist eine Herausforderung, es ist hart, aber es versetzt Sie nicht in Wut.«
»Ich schätze, Sie liegen falsch.«
»Ah, Sie haben soeben zweimal geblinzelt. Eine kinesische Stressreaktion. Sie glauben nicht, was Sie sagen.«
»Mit Ihnen kann man nur schwer streiten.« Er leerte das Glas.
»Ach, Lincoln, ich habe Sie längst durchschaut. Sie können mich nicht an der Nase herumführen. Aber keine Angst. Ich werde es niemandem verraten.«
Die Haustür öffnete sich. Amelia Sachs kam ins Zimmer. Sie zog ihre Jacke aus, und die Frauen begrüßten sich. Aus Amelias Haltung und Blick ging eindeutig hervor, dass sie beunruhigt war. Sie eilte zum vorderen Fenster, sah hinaus und zog dann das Rollo herunter.
»Was ist los?«, fragte Rhyme.
»Gerade eben hat eine Nachbarin mich
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