Gehetzte Uhrmacher
dem Schrank oder hinter der Tür versteckt haben«, sagte Dance.
»Kann gut sein«, sagte Lucy.
Dance sah zu Sachs, die lächelnd nickte und sagte: »Gut, dann sollte ich mich mal an die Arbeit machen.« Und sie öffnete die Schranktür.
Das war nun schon der zweite Fehlschlag.
Duncan fuhr sogar noch vorsichtiger, gewissenhafter , als üblich. Er schwieg und wirkte völlig ruhig. Was Vincent noch mehr verunsicherte. Falls Duncan mit der Faust auf das Lenkrad geschlagen und gebrüllt hätte, so wie sein Stiefvater, wäre Vincent wohler gewesen. (»Du hast was getan?«, hatte der Mann getobt, als er von Sally Annes Vergewaltigung hörte. »Du perverser Fettsack!«) Er fürchtete, Duncan könne genug haben und die ganze Sache abblasen.
Vincent wollte nicht, dass sein Freund wieder abreiste.
Duncan hingegen fuhr einfach langsam weiter, blieb in der Spur, hielt sich an die Verkehrsregeln, beschleunigte nicht vor gelben Ampeln.
Und sagte lange kein einziges Wort.
Schließlich erklärte er Vincent, was geschehen war: Als er gerade auf das Dach steigen wollte – um das Gebäude zu betreten, an Lucys Tür zu klopfen und sie zum Beenden des Telefonats zu veranlassen -, hatte er einen Blick nach unten geworfen und dort in der Gasse einen Mann gesehen, der ihn anstarrte, sein Mobiltelefon aus der Tasche zog und Duncan aufforderte, er solle stehen bleiben. Der Killer war auf das Dach geeilt, einige Gebäude nach Westen geflohen und zurück auf die Straße gelangt. Dann war er zu dem Buick gelaufen.
Duncan fuhr umsichtig, ja, aber ohne erkennbares Ziel. Anfangs fragte Vincent sich, ob er vielleicht die Polizei abschütteln wollte, aber es schien sie niemand zu verfolgen. Dann gelangte er zu dem
Schluss, dass Duncan innerlich auf Autopilot geschaltet hatte und große Kreise beschrieb.
Wie die Zeiger einer Uhr.
Sobald der Schreck über ihr knappes Entrinnen sich legte, spürte Vincent auch diesmal wieder den Hunger anwachsen. Sein Kiefer tat ihm weh, sein Kopf, seine Leistengegend.
Falls wir nichts essen, sterben wir.
Er wollte wieder in Michigan sein, Zeit mit seiner Schwester verbringen, mit ihr zu Abend essen, vor dem Fernseher sitzen. Aber seine Schwester war nicht hier, sondern viele, viele Meilen entfernt und dachte womöglich in genau diesem Moment an ihn – doch das half ihm auch nicht weiter... Der Hunger war zu stark. Nichts klappte! Er wäre am liebsten in Tränen ausgebrochen. Vincent kam eher zum Zug, wenn er sich in irgendwelchen Einkaufszentren an der Küste von New Jersey herumtrieb oder in einem einsamen Park darauf wartete, dass eine Studentin oder Sprechstundenhilfe vorbeijoggen würde. Was hatte es für einen Sinn...
»Es tut mir leid«, sagte Duncan mit seiner leisen Stimme.
»Es...?«
»Es tut mir leid.«
Vincent war besänftigt. Sein Zorn legte sich, und er wusste nicht, was er sagen sollte.
»Du hast mir geholfen und hart gearbeitet. Und was ist passiert? Ich habe dich enttäuscht.«
Vincent war plötzlich wieder zehn Jahre alt und sah seine Mutter vor sich, wie sie ihm erklärte, sie habe ihn mit Gus enttäuscht, später dann mit ihrem zweiten Ehemann, dann mit Bart, dann mit Rachel, dem Experiment, dann mit ihrem dritten Ehemann.
Und jedes Mal hatte der Junge einfach nur gesagt, was er auch jetzt sagte: »Ist schon okay.«
»Nein, das ist es nicht... Ich rede ständig über das große Ganze. Aber das soll nicht unsere Rückschläge beschönigen. Ich bin dir etwas schuldig. Und ich werde es wiedergutmachen.«
Was etwas war, das seine Mutter nie gesagt, geschweige denn getan hatte. Vincent durfte sich mit Essen trösten, mit Fernsehen, dem Auskundschaften von Mädchen und seinen Stelldicheins.
Nein, es war klar, dass sein Freund Duncan meinte, was er sagte. Er bereute aufrichtig, dass Vincent auf Lucy verzichten musste.
Vincent verspürte immer noch den Drang zu weinen, aber nun aus einem anderen Grund. Nicht vor lauter Hunger, nicht aus Enttäuschung. Er empfand ein seltsames Gefühl. Kaum jemand sagte je etwas Nettes zu ihm. Kaum jemand sorgte sich je um ihn.
»Hör mal«, sagte Duncan. »Die Frau, die ich mir als Nächste vornehme, wirst du nicht haben wollen.«
»Ist sie hässlich?«
»Eigentlich nicht. Es liegt an der Art, wie sie sterben wird... Ich werde sie verbrennen.«
»Oh.«
»Erinnerst du dich noch an die Alkoholfolter aus dem Buch?«
»Nicht so genau.«
Auf den Bildern in dem Buch wurden Männer gefoltert; sie hatten Vincent nicht interessiert.
»Man
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