Gehetzte Uhrmacher
schüttet Alkohol auf die untere Körperhälfte der Person und zündet ihn an. Ein Alkoholfeuer lässt sich schnell löschen, sobald der Verhörte zu reden anfängt. Natürlich habe ich nicht vor, es zu löschen.«
Stimmt, pflichtete Vincent ihm bei, nach dieser Prozedur würde er die Frau nicht mehr haben wollen.
»Aber ich habe eine andere Idee.«
Als Duncan ihm erklärte, was er sich ausgedacht hatte, besserte Vincents Stimmung sich mit jedem Wort.
»Hältst du das nicht auch für eine rundum gelungene Lösung, die alle zufrieden stellt?«, fragte Duncan.
Nun, nicht wirklich alle , dachte der clevere Vincent, der in Anbetracht der Umstände ziemlich gut gelaunt war.
Rhyme saß vor den Tabellen, als Sachs sich über Funk zurückmeldete.
»Okay, Rhyme. Wir haben herausgefunden, dass er sich im Schrank versteckt hat.«
»In welchem?«
»Dem in Lucys Schlafzimmer.«
Rhyme schloss die Augen. »Beschreib ihn mir.«
Sachs schilderte ihm den ganzen Tatort – den Flur, der zum Schlafzimmer führte, den Grundriss des Raumes, dann das Mobiliar, die Bilder an der Wand, die Wege, die der Uhrmacher genommen
hatte, und weitere Details. Jede der Äußerungen war präzise und objektiv und zeugte von ihrer erstklassigen Ausbildung und großen Erfahrung. Rhyme fragte sich, wie lange es wohl dauern mochte, bis ein anderer Polizist das Gitternetz dermaßen gut beherrschen würde, falls Sachs tatsächlich aus dem Polizeidienst ausschied.
Ewig, dachte er zynisch.
In ihm flackerte Wut auf. Dann schob er das Gefühl beiseite und konzentrierte sich wieder auf ihre Worte.
Sachs beschrieb den Schrank. »Ein Meter dreiundneunzig breit. Voller Kleidung. Männersachen links, Frauensachen rechts, je zur Hälfte. Schuhe auf dem Boden. Vierzehn Paar. Vier für Männer, zehn für Frauen.«
Das unter Eheleuten typische Mengenverhältnis, dachte Rhyme und fühlte sich daran erinnert, wie es vor ein paar Jahren in seinem eigenen Schrank ausgesehen hatte. »Hat er sich da drinnen auf den Boden gelegt?«
»Nein. Zu viele Kartons.«
Er hörte, wie sie jemandem eine Frage stellte. Dann sprach sie wieder in das Mikrofon. »Die Kleidung sieht ordentlich aus, aber er muss sie bewegt haben. Manche der Schachteln am Boden wurden eindeutig verschoben, und da liegen auch wieder mehrere Stückchen Dachpappe.«
»Zwischen was für Kleidungsstücken hatte er sich versteckt?«
»Zwischen einem Anzug und Lucys Armeeuniform.«
»Gut.« Gewisse Kleidung, beispielsweise eine Uniform, nimmt besonders gut Fremdpartikel auf, weil sie mit vorstehenden Schulterstücken, Knöpfen und Abzeichen versehen ist. »Ist er mit der Vorder- oder der Rückseite in Berührung gekommen?«
»Mit der Vorderseite.«
»Perfekt. Nimm dir jeden einzelnen Knopf vor, jeden Orden, jede Spange, jede Auszeichnung.«
»Okay. Gib mir ein paar Minuten.«
Dann herrschte Stille.
Seine mit Wut durchsetzte Ungeduld kehrte zurück. Er starrte die Tafeln an.
»Ich habe zwei Haare und mehrere Fasern gefunden«, sagte Sachs schließlich.
Er wollte ihr auftragen, sie solle die Haare mit Proben aus der Wohnung vergleichen. Doch natürlich war das nicht nötig. »Ich habe die Haare mit denen von Lucy Richter abgeglichen. Sie stimmen nicht überein.« Rhyme wollte hinzufügen, sie solle außerdem den Ehemann berücksichtigen, als Sachs auch schon sagte: »Aber nach der Bürste ihres Mannes zu schließen, stammen die Haare zu neunundneunzig Prozent von ihm.«
Gut, Sachs. Gut.
»Die Fasern hingegen... scheinen zu nichts hier zu gehören.« Sachs hielt inne. »Sie sehen wie hell gefärbte Wolle aus. Vielleicht von einem Pullover... aber sie hingen an einem Taschenknopf, der sich für einen Mann von der Körpergröße des Uhrmachers ungefähr auf Schulterhöhe befunden haben muss. Könnte auch ein Lammfellkragen gewesen sein.«
Das war eine vertretbare Annahme, aber sie mussten die Fasern ohnehin noch genauer im Labor analysieren.
»Das war’s auch schon, Rhyme«, sagte Sachs nach einigen Minuten. »Nicht viel, aber immerhin etwas.«
»Okay, bring alles her. Wir nehmen es uns hier genauer vor.« Er unterbrach die Verbindung.
Thom schrieb auf, was Sachs ihnen mitgeteilt hatte. Dann verließ er den Raum, und Lincoln Rhyme starrte wieder die Tabellen an. Er fragte sich, ob er hier womöglich nicht nur die Spuren eines Mordfalls vor sich sah, sondern Belege für eine andere Art von endgültigem Ereignis: die Aufzeichnungen der letzten Ermittlung, die er und Amelia Sachs je
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