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Gehetzte Uhrmacher

Titel: Gehetzte Uhrmacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Deaver
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Immobilie ist also nicht unbedingt gefragt. Und zu dieser Jahreszeit wird niemand auf die Idee kommen, Interessenten zu suchen und dort herumzuführen.« Ein kurzer Blick zu Vincent. »Keine Sorge. Sie wurde ausgesegnet.«
    »Ach ja?«, hatte Vincent erwidert, der nach eigener Überzeugung genug Sünden begangen hatte, um auf direktem Weg zur Hölle zu fahren, sofern es eine gab; der unbefugte Aufenthalt in einer Kirche, ob nun geweiht oder nicht, zählte dabei zu seinen geringsten Vergehen.
    Der Makler hielt die Türen natürlich verschlossen, aber die Fähigkeiten eines Uhrmachers sind im Wesentlichen die eines Feinmechanikers. Die ersten Uhrmacher seien gelernte Kunstschmiede gewesen, hatte Duncan erläutert und dann mit Hilfe eines Dietrichs mühelos eine der Hintertüren geöffnet und sie mit einem eigenen Vorhängeschloss versehen, sodass sie kommen und gehen konnten, ohne dabei von der Straße oder vom Bürgersteig aus bemerkt zu werden. Er wechselte auch das Schloss an der Vordertür aus und bestrich es mit einer dünnen Wachsschicht, damit sie es bemerken würden, falls jemand in ihrer Abwesenheit versuchen sollte, ins Innere zu gelangen.
    Das Gebäude war düster und zugig und roch nach billigen Reinigungsmitteln.
    Sie wohnten beide im ersten Stock des Anbaus der Kirche. Duncans Zimmer war das einstige Schlafzimmer des Pfarrers. Auf der anderen Seite des Korridors hatte Vincent das ehemalige Arbeitszimmer mit Beschlag belegt. Es gab hier außer dem Feldbett einen Tisch, eine Kochplatte, eine Mikrowelle und einen Kühlschrank (denn natürlich oblag es dem immer hungrigen Vincent, ihre provisorische Küche zu leiten). Die Kirche verfügte immer noch über Strom, damit die Makler das Licht einschalten konnten, und auch
die Heizung funktionierte weiterhin, weil sonst die Rohre geplatzt wären. Allerdings hatte man den Thermostat sehr niedrig eingestellt.
    »Schade, dass es hier keinen Uhrenturm gibt. Wie Big Ben«, hatte Vincent beim Anblick der Kirche und in Anspielung auf Duncans besondere Vorliebe gesagt.
    »Das ist der Name der Glocke, nicht der Uhr.«
    »Im Londoner Tower?«
    »In dem Uhrenturm«, hatte der ältere Mann ihn erneut berichtigt. »Am Westminsterpalast, dem Sitz des Parlaments. Benannt nach Sir Benjamin Hall. Mitte des neunzehnten Jahrhunderts war es die größte Glocke von ganz England. Bei den ersten Uhren wurde die Zeit nur durch die Glocken angegeben. Es gab weder Zifferblätter noch Zeiger.«
    »Oh.«
    »›Clock‹, das englische Wort für Uhr, leitet sich von dem lateinischen ›clocca‹ ab, was wiederum Glocke bedeutet.«
    Dieser Mann wusste einfach alles .
    Vincent mochte das. Er mochte ziemlich viel an Gerald Duncan. Er hatte sich gefragt, ob zwei solche Eigenbrötler wohl wirklich gute Freunde werden könnten. Vincent hatte nicht viele Freunde. Mit den Anwaltsgehilfen und anderen Schreibkräften ging er manchmal einen trinken. Aber sogar der clevere Vincent hielt sich bei diesen Gelegenheiten meistens zurück, denn er befürchtete, ihm könnte eine unpassende Bemerkung über eine Kellnerin oder eine Frau am Nebentisch entschlüpfen. Hunger machte nachlässig (man musste sich nur mal ansehen, was mit Sally Anne geschehen war).
    Vincent und Duncan waren in vielerlei Hinsicht gegensätzlich, aber sie hatten eines gemeinsam: Ihre Herzen bargen dunkle Geheimnisse. Und jeder, der jemals eine solchermaßen verwandte Seele getroffen hat, weiß nur zu gut, dass eine derartige Verbindung viel mehr zählt als unterschiedliche Lebensstile oder politische Überzeugungen.
    O ja, Vincent würde ihrer Freundschaft auf jeden Fall eine Chance geben.
    Nun erledigte er den Abwasch und dachte wieder einmal an Joanne, die Brünette, der sie heute einen Besuch abstatten würden: das Blumenmädchen, ihr nächstes Opfer.

    Vincent öffnete den kleinen Kühlschrank, nahm einen Bagel heraus und teilte ihn mit seinem Jagdmesser in zwei Hälften. Es besaß eine zwanzig Zentimeter lange Klinge und war sehr scharf. Er strich sich Rahmkäse auf den Bagel, verspeiste ihn und trank dazu zwei Flaschen Cola. Ihm fror fast die Nase ab. Der pedantische Gerald Duncan bestand darauf, dass sie auch hier Handschuhe trugen, was meistens ziemlich umständlich war. Heute jedoch war es so kalt, dass Vincent sich nicht daran störte.
    Er legte sich auf das Bett und stellte sich vor, wie Joannes Körper aussehen würde.
    Heute, schon bald ...
    Er kam fast um vor Hunger. Seine Eingeweide zogen sich zusammen. Falls das kleine

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