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Gehetzte Uhrmacher

Titel: Gehetzte Uhrmacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Deaver
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sie von einem Streifenbeamten zurückgehalten wurde. Sie hatte die Hände vor das Gesicht geschlagen und schluchzte. Sellitto trat vor. Sachs gesellte sich hinzu. »Kennen Sie ihn, Ma’am?«, fragte der stämmige Detective.
    »Was ist passiert, was ist passiert? Nein... o Gott...«
    »Kennen Sie ihn?«, wiederholte Sellitto.
    Die Frau brach in Tränen aus und wandte sich von dem schrecklichen Anblick ab. »Mein Bruder... Ist er etwa... o Gott, nein, er kann doch nicht...« Sie sank mitten im Schnee auf die Knie.
    Das musste die Frau sein, die ihren Bruder am Vorabend als vermisst gemeldet hatte, folgerte Sachs.
    Wenn es um Verdächtige ging, konnte Lon Sellitto sich in einen Pitbull verwandeln, aber bei Opfern und ihren Angehörigen legte er eine überraschende Sanftheit an den Tag. Leise und mitfühlend, noch verstärkt durch den gedehnten Brooklyner Akzent, sagte er: »Es tut mir so leid. Ja, er ist tot.« Dann half er der Frau auf, und sie lehnte sich an die Wand der Gasse.
    »Wer war das? Und wieso?« Ihre Stimme verwandelte sich in ein Kreischen, als ihr Blick erneut auf den entsetzlichen Tatort fiel. »Wer macht so etwas? Wer?«
    »Das wissen wir noch nicht, Ma’am«, sagte Sachs. »Es tut mir leid. Aber wir werden ihn finden. Das verspreche ich Ihnen.«
    Erschrocken drehte die Frau sich um. »Meine Tochter soll es nicht sehen. Bitte!«
    Sachs schaute an ihr vorbei zu einem Wagen, der halb auf dem Gehweg stand, wo die Frau voller Panik ausgestiegen war. Auf dem Beifahrersitz saß ein halbwüchsiges Mädchen, das Amelia nun mit geneigtem Kopf stirnrunzelnd musterte. Sellitto stellte sich so hin, dass dem Kind der Blick auf den Onkel versperrt wurde.
    Die Schwester, deren Name Barbara Eckhart lautete, war ohne Mantel aus dem Wagen gesprungen und zitterte in der Kälte. Sachs führte sie durch die offene Tür in die kleine Halle, die sie kurz
zuvor untersucht hatte. Die hysterische Frau bat darum, die Toilette benutzen zu dürfen. Als sie wieder zum Vorschein kam, war sie immer noch sichtlich erschüttert und blass, aber sie weinte nicht mehr.
    Barbara konnte sich nicht erklären, welches Motiv der Mörder gehabt haben mochte. Ihr Bruder, ein Junggeselle, arbeitete für sich allein als freiberuflicher Werbetexter. Er war beliebt und hatte ihres Wissens keine Feinde. Er war in keine Dreiecksbeziehung verwickelt – was eifersüchtige Ehemänner ausschloss – und hatte nie Drogen genommen oder sonst etwas Illegales getan. Nach New York gezogen war er vor zwei Jahren.
    Also bestand keine offensichtliche Verbindung zur Mafia. Das gab Sachs zu denken, denn es ließ die Psychopathen-Theorie an die erste Stelle rücken, was für die Öffentlichkeit eine weitaus größere Gefahr bedeutete als ein Profikiller des Mobs.
    Sachs erklärte, dass der Leichnam nun obduziert werden würde. Nach vierundzwanzig bis achtundvierzig Stunden könnten die nächsten Angehörigen ihn dann aus der Gerichtsmedizin abholen lassen. Barbaras Miene versteinerte. »Warum hat er Teddy auf diese Weise umgebracht? Was hat er sich nur dabei gedacht?«
    Doch das war eine Frage, auf die Amelia Sachs keine Antwort wusste.
    Sellitto half der Frau zurück zu ihrem Wagen. Sachs konnte die Augen nicht von dem Mädchen lassen, das ihren Blick erwiderte. Es war kaum zu ertragen. Die Tochter musste inzwischen wissen, dass der Tote tatsächlich ihr Onkel war, aber Amelia sah ihr an, dass sie noch immer ein kleines bisschen Hoffnung hegte.
    Eine Hoffnung, die ihr gleich darauf genommen werden würde.
     
    Hunger.
    Vincent Reynolds lag auf seinem muffigen Bett in ihrer vorübergehenden Bleibe, bei der es sich ausgerechnet um eine ehemalige Kirche handelte, und verspürte tief im Innern einen Hunger, der es an stiller Intensität mit dem Knurren seines ausladenden Magens aufnehmen konnte.
    Das alte katholische Gebäude stand in einem entlegenen Winkel Manhattans unweit des Hudson River und diente ihnen als Operationsbasis für die Morde. Gerald Duncan war von außerhalb,
und Vincent wohnte eigentlich in New Jersey. Er hatte angeboten, sein Apartment zur Verfügung zu stellen, aber Duncan hatte erwidert, das sei auf keinen Fall möglich, denn sie dürften sich nicht in der Nähe ihrer richtigen Wohnungen blicken lassen. Dabei hatte er ein wenig tadelnd geklungen, aber auf wohlwollende Weise, so wie ein Vater, der seinen Sohn zurechtweist.
    »Eine Kirche?«, hatte Vincent gefragt. »Wieso?«
    »Weil sie schon seit vierzehneinhalb Monaten zum Verkauf steht. Die

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