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Gehetzte Uhrmacher

Titel: Gehetzte Uhrmacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Deaver
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Stelldichein mit Joanne noch lange auf sich warten ließ, würde er vor Sehnsucht vergehen.
    Er trank eine Dose Limonade, aß eine Tüte Kartoffelchips. Dann ein paar Brezeln.
    Hungrig …
    So schrecklich hungrig …
    Von allein wäre Vincent Reynolds gar nicht auf den Gedanken gekommen, dieses Verlangen nach sexuellen Übergriffen als Hunger zu bezeichnen. Die Idee stammte von seinem Therapeuten, Dr. Jenkins.
    Als er wegen Sally Anne im Gefängnis gewesen war – seine einzige Haft bislang -, hatte der Arzt ihm erklärt, er müsse akzeptieren, dass die Triebe, die er verspürte, niemals verschwinden würden. »Du kannst sie nicht loswerden. Sie sind in gewisser Weise wie ein Hunger... Und was wissen wir über Hunger? Er ist natürlich. Wir können gar nicht anders, als hungrig zu werden, meinst du nicht auch?«
    »Ja, Sir.«
    Der Therapeut hatte hinzugefügt, man könne den Hunger zwar nicht vollständig abstellen, aber »ihn auf angemessene Art stillen. Verstehst du, was ich sagen will? Du gönnst dir zur rechten Zeit eine anständige Mahlzeit, nicht nur einen Imbiss. Auf das Zwischenmenschliche übertragen bedeutet dies, dass du eine gesunde, feste Beziehung eingehst, die zu einer Heirat und einer Familie führt.«
    »Ich verstehe.«

    »Gut. Ich glaube, wir machen Fortschritte. Meinst du nicht auch?«
    Und der Junge hatte sich den Ratschlag des Mannes sehr zu Herzen genommen, wenngleich das Ergebnis nicht ganz den Absichten des guten Doktors entsprach. Vincent beschloss, die Hunger-Analogie als hilfreiche Richtschnur zu benutzen. Er würde nur dann essen – also ein kleines Stelldichein mit einem Mädchen haben -, wenn es unbedingt sein musste. Auf diese Weise würde der Trieb nicht übermächtig werden – und Vincent nicht so nachlässig wie bei Sally Anne.
    Meinen Sie nicht auch, Dr. Jenkins?
    Vincent aß die letzten Brezeln, trank die Limonade aus und schrieb einen weiteren Brief an seine Schwester. An den Rand malte er ein paar Cartoons, die ihr bestimmt gefallen würden. Er war gar kein so schlechter Zeichner.
    Es klopfte an der Tür.
    »Herein.«
    Gerald Duncan betrat den Raum. Die Männer wünschten einander einen guten Morgen. Vincent warf einen Blick in Duncans tadellos aufgeräumtes Zimmer. Alles auf dem Tisch war symmetrisch angeordnet. Die Kleidung war gebügelt und hing mit genau fünf Zentimetern Abstand im Schrank. Das konnte sich für ihre Freundschaft als hinderlich erweisen. Vincent war schlampig.
    »Möchten Sie etwas essen?«, fragte Vincent. »Nein danke.«
    Deshalb war der Uhrmacher so dünn. Er aß so gut wie gar nichts, hatte nie Hunger. Noch ein mögliches Hindernis. Aber Vincent beschloss, diesen Fehler zu ignorieren. Immerhin aß auch Vincents Schwester kaum etwas, und er liebte sie trotzdem.
    Der Killer bereitete sich einen Kaffee zu. Während das Wasser heiß wurde, nahm er die Dose mit den Kaffeebohnen aus dem Kühlschrank, maß genau zwei Löffel ab und füllte sie in die Handmühle. Er drehte ein Dutzend Mal den Griff, bis das Rasseln und Knirschen im Innern verstummte. Dann schüttete er das Kaffeemehl sorgfältig in die papierene Filtertüte, die bereits in dem Filter steckte. Er klopfte dagegen, um das Mehl gleichmäßig zu verteilen. Vincent sah gern dabei zu, wie Gerald Duncan Kaffee machte.
    Gewissenhaft ...

    Duncan schaute auf seine goldene Taschenuhr. Behutsam zog er das Uhrwerk auf. Er trank den Kaffee aus – ganz schnell, als sei es bittere Medizin – und sah dann Vincent an. »Unser Blumenmädchen«, sagte er. »Joanne. Gehst du hin und siehst mal nach ihr?«
    Das war ein Tiefschlag. Bis später, cleverer Vincent.
    »Klar.«
    »Ich will zu der Gasse an der Cedar Street. Die Polizei dürfte inzwischen dort sein. Ich möchte gern wissen, mit wem wir es zu tun haben.«
    Mit wem ...
    Duncan zog sich seine Jacke an und hängte sich die Tasche über die Schulter. »Fertig?«
    Vincent nickte, streifte sich den cremefarbenen Parka über und setzte Mütze und Sonnenbrille auf.
    »Lass mich wissen, ob Leute in die Werkstatt kommen, um ihre Bestellungen abzuholen, oder ob sie allein arbeitet«, sagte Duncan.
    Der Uhrmacher hatte herausgefunden, dass Joanne viel Zeit in ihrer Werkstatt zubrachte, die ein paar Blocks entfernt von ihrem Blumenladen lag. Die Werkstatt war still und dunkel. Der hungrige Vincent stellte sich die Frau vor, ihr lockiges braunes Haar, das lange, aber hübsche Gesicht. Er bekam sie gar nicht mehr aus dem Kopf.
    Sie gingen nach unten und hinaus auf die

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