Gehetzte Uhrmacher
entfernt. Wieso sind sie nicht bis dorthin gefahren? Und weshalb haben sie nicht versucht, den Explorer besser zu verstecken?«
»Gut, Ron. Die Frage hätte mir selbst einfallen müssen. Was meinen Sie? Warum haben die beiden dort geparkt?«
»Vielleicht ist der Fahrer in Panik geraten.«
»Könnte sein. Und wäre gut für uns – nichts führt zu größerer Unachtsamkeit als Angst. Wir behalten es im Hinterkopf. Okay, jetzt schreiten Sie das Gitternetz ab. Erst zwischen dort und dem Ausgang und dann rund um den Wagen. Sehen Sie auch unter das Fahrzeug und aufs Dach. Sie wissen über das Gitternetz Bescheid?«
»Ja.« Das »Sir« schluckte er runter.
Die nächsten zwanzig Minuten ging Pulaski hin und her und untersuchte den Boden und die Decke des Parkdecks. Er ließ keinen Millimeter aus. Die Luft roch nach der üblichen Mischung aus Abgasen, Öl und Desinfektionsmitteln. Bekümmert teilte er Rhyme mit, er habe nicht das Geringste gefunden. Der Kriminalist reagierte nicht darauf und wies Pulaski an, sich nun den Explorer vorzunehmen.
Sie überprüften die Fahrgestellnummer und das Kennzeichen des Wagens und fanden heraus, dass er tatsächlich einem der Männer von Sellittos Liste gehört hatte , und zwar dem jungen Straftäter, der als Verdächtiger ausgeschlossen worden war, weil er wegen des Besitzes von Kokain ein Jahr auf Rikers Island absaß. Der Explorer war im Zuge der Ermittlungen konfisziert worden. Demnach hatte der Uhrmacher ihn von einem Verwahrplatz gestohlen, wo er im Auftrag des Sheriffs versteigert werden sollte. Eine clevere Idee, dachte Rhyme. Es dauerte meistens Wochen, bis Beschlagnahmen in den Daten der Zulassungsstelle auftauchten, und mehrere Monate, bis die Fahrzeuge letztlich versteigert wurden. Die Nummernschilder gehörten zu einem anderen gelbbraunen Explorer
und waren auf dem Parkplatz des Newark Airport entwendet worden.
»Ich liebe Autos, Ron«, sagte Rhyme nun leise und in einem seltsamen Tonfall. »Sie haben uns so viel zu erzählen. Sie sind wie Bücher.«
Pulaski erinnerte sich an die entsprechende Passage von Rhymes Text. Er zitierte sie nicht wörtlich, sondern sagte: »Schon klar, die Fahrgestellnummer, das Kennzeichen, etwaige Aufkleber, das Inspektionsscheckheft...«
Ein Lachen. » Sofern der Eigentümer der Täter ist. Aber unser Wagen wurde gestohlen, also ist die Werkstatt des letzten Ölwechsels oder die Tatsache, dass er ein Baby an Bord hat, nicht wirklich von Bedeutung, oder?«
»Wohl nicht.«
»Wohl nicht«, wiederholte Rhyme. »Welche Informationen kann ein gestohlenes Fahrzeug uns liefern?«
»Nun, Fingerabdrücke.«
»Sehr gut. In einem Wagen gibt es so viele Stellen, die angefasst werden – das Lenkrad, der Schaltknüppel, die Heizlüftung, das Radio, die Türgriffe – Hunderte! Und alle mit solch schönen glatten Oberflächen. Danke, Detroit... Oder Tokio oder Wolfsburg oder wo auch immer. Und noch etwas: Die meisten Leute betrachten ihre Wagen als Aktenkoffer und Gerümpelschubladen – Sie wissen schon, diese Küchenschubladen, in die man alles Mögliche reinwirft. Ein unerschöpflicher Quell persönlicher Auskünfte. Fast wie ein Tagebuch, in dem auch niemand lügen würde. Suchen Sie danach zuerst: nach greifbaren Beweisen.«
Als der junge Polizist sich vorbeugte, hörte er irgendwo hinter sich ein metallisches Scharren. Er zuckte zusammen und starrte in die dunklen Tiefen des Parkhauses. Da er Rhymes Regeln für die Untersuchung eines Tatorts kannte, hatte er alle anderen Beamten weggeschickt. Das Geräusch hätte von einer Ratte stammen können. Oder von einem herunterfallenden Eiszapfen. Dann hörte er ein Klicken. Es erinnerte ihn an eine tickende Uhr.
Na los, mach weiter, forderte Pulaski sich selbst auf. Vermutlich sind das bloß die heißen Scheinwerfer. Sei nicht so schreckhaft. Du wolltest diesen Job übernehmen, weißt du noch?
Er musterte die Vordersitze. »Hier gibt’s Krümel. Jede Menge.«
»Krümel?«
»Hauptsächlich von Junkfood, schätze ich. Sieht aus wie Kekse, Tortillachips, Kartoffelchips, Schokolade. Ein paar klebrige Flecke. Limonade, würde ich sagen. Oh, Moment, hier ist was unter der Rückbank... Sehr gut. Eine Patronenschachtel.«
»Welche Sorte?«
»Remington. Kaliber zweiunddreißig.«
»Was ist in der Schachtel?«
»Äh, nun ja, Patronen?«
»Sind Sie sicher?«
»Ich hab sie nicht aufgemacht. Soll ich?«
Das Schweigen sagte ja.
»Ja, Patronen. Zweiunddreißiger. Aber sie ist nicht voll.«
»Wie
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