Gehetzte Uhrmacher
viele fehlen?«
»Sieben.«
»Ah. Das hilft uns weiter.«
»Inwiefern?«
»Später.«
»Und he, wer hätte das gedacht...«
» Was ?«, herrschte Rhyme ihn an.
»Verzeihung. Hier ist noch etwas. Ein Buch über Verhörtechniken. Aber es sieht eher wie ein Buch über Foltermethoden aus.«
»Folter?«
»Ganz recht.«
»Gekauft? Aus einer Bücherei?«
»Ohne Preisschild, ohne beiliegenden Kaufbeleg, ohne Büchereistempel. Und wem auch immer es gehört, er hat oft darin gelesen.«
»Gut gesagt, Ron. Sie gehen nicht automatisch davon aus, dass es dem Täter gehört. Bleiben Sie unvoreingenommen. Legen Sie sich nie zu früh fest.«
Es war kein besonders großes Lob, aber der junge Mann freute sich trotzdem.
Dann sammelte Pulaski die Partikel mit einem Kleberoller vom Boden auf und saugte zusätzlich den Bereich zwischen und unter den Sitzen ab.
»Ich glaube, ich hab alles.«
»Handschuhfach.«
»Hab ich überprüft, ist leer.«
»Pedale?«
»Hab ich abgekratzt. Hing aber kaum was dran.«
»Kopfstützen?«, fragte Rhyme.
»Oh, die hab ich mir noch nicht vorgenommen.«
»Dort könnten Haare oder irgendeine Lotion kleben.«
»Leute tragen Mützen«, wandte Pulaski ein.
Rhyme war nicht erfreut. »Auf die winzige Chance hin, dass der Uhrmacher weder ein Sikh, eine Nonne, ein Astronaut, ein Schwammtaucher oder sonst jemand ist, dessen Kopf vollständig bedeckt ist – würden Sie mir wohl den Gefallen tun und die Kopfstützen untersuchen?«
»Mach ich.«
Gleich darauf sah Pulaski eine Strähne aus grauschwarzem Haar vor sich. Er berichtete es Rhyme. Der Kriminalist gab sich nicht schadenfroh. »Gut«, sagte er. »Verstauen Sie die Haare in einem Plastikbeutel. Nun zu den Fingerabdrücken. Ich würde schrecklich gern wissen, wer unser Uhrmacher in Wahrheit ist.«
Pulaski, der trotz der eiskalten, klammen Luft schwitzte, mühte sich zehn Minuten lang mit Pinsel, Puder und Sprays ab, mit alternativen Lichtquellen und einer eingefärbten Brille.
Als Rhyme ungeduldig fragte: »Was haben Sie bis jetzt?«, musste der Neuling einräumen: »Genau genommen gar nichts.«
»Sie meinen, keine vollständigen Abdrücke. Das ist in Ordnung. Teilabdrücke reichen.«
»Nein, ich meine, es gibt hier keinerlei Abdrücke, Sir. Nirgendwo. Im ganzen Wagen.«
»Unmöglich.«
Aus Rhymes Buch wusste Pulaski, dass es drei Arten von Abdrücken gab – plastische, also dreidimensionale, wie zum Beispiel in Schlamm oder Lehm; sichtbare, die mit bloßem Auge erkennbar waren; und latente, die nur mit spezieller Ausrüstung zum Vorschein gebracht werden konnten. Plastische Abdrücke kamen so gut wie nie vor, sichtbare nur selten, aber latente gab es nahezu überall.
Außer im Explorer des Uhrmachers.
»Schmierspuren?«
»Nein.«
»Das ist verrückt. Die können in fünf Minuten unmöglich ein ganzes Auto abgewischt haben. Nehmen Sie sich die komplette Außenseite vor. Vor allem rund um die Türen und den Tankdeckel.«
Mit unsicherer Hand suchte Pulaski weiter. Hatte er den Pinsel falsch benutzt? Die Chemikalien fehlerhaft aufgesprüht? Eventuell die falsche Brille aufgesetzt?
Die schlimmen Kopfverletzungen, die er vor nicht allzu langer Zeit davongetragen hatte, waren nicht ohne Folgen geblieben, darunter posttraumatischer Stress und Panikattacken. Er litt außerdem unter einem Zustand, den er Jenny gegenüber als »diese echt komplizierte, technische Medizinsache – verschwommene Gedanken« beschrieben hatte. Er wurde den Eindruck nicht los, dass er seit dem Unfall einfach nicht mehr derselbe war, wie eine beschädigte Ware, dass er nicht mehr so intelligent war wie sein Bruder, obwohl sie früher den gleichen IQ gehabt hatten. Vor allem aber fürchtete er, er könne nicht so schlau sein wie die Täter, mit denen er es in Lincoln Rhymes Auftrag zu tun bekam.
Aber dann dachte er: Auszeit! Du denkst, es liegt an dir. Verdammt, auf der Akademie hast du zu den besten fünf Prozent gehört. Du weißt, was du tust. Du arbeitest doppelt so hart wie die meisten Cops.
»Ich bin mir sicher, Detective«, sagte er. »Die haben es irgendwie geschafft, keine Abdrücke zu hinterlassen... Moment, bleiben Sie dran.«
»Ich gehe nirgendwohin, Ron.«
Pulaski nahm eine Lupe zur Hand. »Okay, ich hab was. Ich sehe hier Baumwollfasern vor mir. Beige. Irgendwie fleischfarben.«
»Irgendwie«, tadelte Rhyme.
»Fleischfarben. Von Handschuhen, möchte ich wetten.«
»Also sind er und sein Assistent vorsichtig und gerissen.« In Rhymes
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