Gehirnfluesterer
erkennen, auch ein Vorläufer unserer Fähigkeit, in anderen Menschen zu »lesen«, auf das zu schließen, was in
ihrem Kopf vorgeht. Wenn uns die Fähigkeit fehlt, dem Blick anderer zu folgen, um wenigstens ein Minimum an Information darüber
zu erlangen, worauf sie womöglich schauen, wie sollen wir da je begreifen, dass sie möglicherweise einen anderen Blick auf
die Dinge haben als wir selbst? Wenn wir nicht einmal diese grundlegendste Stufe der Autonomie, die Verschiedenheit des anderen,
begreifen, wie sollen wir Vorstellungen vom Subjektiven entwickeln, von Hoffnungen und Ängsten, von Motivationen und Absichten
anderer?
Blicke, um zu beeinflussen
Blicke sind Auslösereize für Wachsamkeit und Aufmerksamkeit und ein Schritt zu mentalem Einklang – dies sind die gängigsten
Hypothesen, um die uns angeborene Neigung, unsere Wahrnehmung auf Augen und Blicke zu richten, zu erklären. Sie decken eine
Menge ab, doch bleibt auch hier die Frage, ob damitschon alles gesagt ist. Warum zum Beispiel werden Akte der Beeinflussung effektiver, wenn gleichzeitig Blickkontakt gesucht
und gehalten wird? Warum sind Blick und Auge Schlüsselreize im Feld sozialer Beeinflussung? Warum sind unsere Augen, mit dem
Weiß des Augapfels und der darin schwimmenden Iris, zumindest äußerlich so extrem verschieden von den Augen im Tierreich?
Ich glaube, die Antwort auf diese Fragen muss man in jenem Zustand vollständiger Abhängigkeit suchen, in dem wir auf die Welt
kommen. Neugeborene haben, wie wir sahen, einen angeborenen Hang, ihre Wahrnehmung auf Augen zu richten. Könnte es nicht sein,
dass diese Fixierung nicht den Augen an sich gilt, sondern etwas anderem, etwas vielleicht viel Fundamentalerem? Dem Gegensatz
zwischen Hell und Dunkel etwa, der für Augen charakteristisch ist? Könnte es sein, dass das, was hier geschieht, gar kein
einheitlicher Prozess ist, sondern ein zweigeteiltes Modell von Einfluss? Zunächst zieht der wahrgenommene Gegensatz die Aufmerksamkeit
des Neugeborenen auf sich. Der zweite Teil wäre dann das optische »Andocken«, das Zupacken des Säuglings mit seinem Charme.
Ein Babygesicht als Superstimulus, übergroß die Augen, riesig Iris und Pupille.
Man muss, um den Charmefaktor, diese zupackende Macht zu verstehen, nur die Augen von Säuglingen und Kleinkindern betrachten.
Nicht nur sind sie im Verhältnis zum ganzen Gesicht überproportional groß (das Gesicht wächst, anders als die Augen, nach
der Geburt kontinuierlich). Auch die Pupillen sind, wie die Abbildung auf Seite 77 zeigt, überproportional groß im Verhältnis
zur Sklera, der weißen Lederhaut des Auges.
Man hat dies damit erklärt, dass die Retina ihre Fähigkeit, Licht einzufangen, noch nicht vollständig entwickelt hat. Aber
die Forschung hat auch gezeigt, dass erweiterte Pupillen noch eine ganz andere Funktion haben können: das Auslösen von Gefühlen.
»Welcher Teil der menschlichen Anatomie schwillt bei Erregung auf seine sechsfache Größe?«, fragt die Professorin in ihrer
medizinischen Einführungsvorlesung.
Peinliches Schweigen.
»Na, kommen Sie schon, Sie werden doch eine Idee haben. Raten Sie einfach.«
Noch immer Schweigen, bis sich der einzige Mann im Hörsaal meldet. Die Professorin winkt ab.
»Nein, vergessen Sie’s. Die richtige Antwort ist: die Pupillen.«
Diese Anekdote gehört in Medizinerkreisen zum Standardrepertoire – natürlich haben vor allem Frauen ihr Vergnügen daran. Hätte
unsere Professorin ihre Frage jedoch Italienerinnen des 16. Jahrhunderts gestellt, hätte es vielleicht anders ausgesehen. Damals träufelten sich die Frauen in Italien gerne ein paar
Tropfen Belladonna – einen Extrakt aus der Schwarzen Tollkirsche, der die Pupille weitet – in die Augen, um sich für potentielle
Freier attraktiver zu machen. Sie wussten, was sie taten, wenn sie auch vermutlich nicht wussten, warum das wirkte.
Legt man uns zwei Bilder desselben Gesichts vor, aber einmal mit erweiterten Pupillen, und stellt die Frage, welches wir attraktiver
finden, dann werden die meisten von uns das mit den großen Pupillen wählen. Und auch in diesem Fall werden vieleder Befragten den Grund ihrer Wahl nicht nennen können. Es geschieht ganz intuitiv, dass sie dieses Gesicht attraktiver oder
freundlicher finden als das andere.
Entscheiden Sie rasch: Welches dieser beiden Gesichter finden Sie attraktiver? Die meisten werden das rechte nennen, können
sich aber
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