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Gehirnfluesterer

Gehirnfluesterer

Titel: Gehirnfluesterer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Dutton
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Selbstmord, indem sie sich von den Klippen des Beachy Head an Englands Südküste
     stürzte. Beachy Head ist ein Ort, an dem viele Selbstmorde verübt werden; allein im Jahr 2004 wurden von dort etwa dreißig
     Fälle gemeldet. Am Tag ihres Todes erhielt Lane, ein Fensterputzer aus Eastbourne, einen Anruf seiner Frau, die sich zu dieser
     Zeit noch an ihrem Arbeitsplatz befand. Ihm fiel nichts Besonderes auf. Dann hörte er die furchtbare Nachricht.
    Nach einigen Tagen, nachdem der erste Schmerz sich gelegt hatte, setzte Lane sich ins Auto. Er wollte unbedingt den Ort sehen,
     an dem seine Frau ihre letzten Augenblicke verbracht hatte. Er wollte mit eigenen Augen sehen, was seine Frau gesehen hatte.
     Nachdem er sich für einige schmerzliche Sekunden umgesehen hatte, fiel sein Blick auf eine Frau. Sie war jung, um die zwanzig,
     saß mit Stift und Papier in der Hand auf einer Bank und starrte hinaus aufs Meer. Zunächst dachte sich Lane nichts dabei.
     Dann begann sein Gehirn zu rasen. Was schrieb die junge Frau? Eine Abschiedsbotschaft? War sie eine weitere Maggie? Er konnte
     das nicht auf sich beruhen lassen, nahm sich ein Herz und sprach die Frau an. Unmissverständlich sagte sie ihm, wohin er sich
     verziehen solle. Seine Ahnung erwies sich als richtig.
    Lanes Gefühle waren noch immer in Aufruhr. Der Tod seiner Frau lag ja nur ein paar Tage zurück. Trotzdem – vielleicht gerade
     deswegen – versuchte er alles, was in seiner Macht stand, die Frau von ihrem Vorhaben abzubringen. Er nannte sogar Maggies
     Namen. Je mehr er jedoch in sie drang, desto entschlossener schien sie zu werden.
    »Meiner Familie bin ich ganz egal«, sagte sie. »Es gibt gar keinen Grund weiterzumachen.« Schließlich hatte sie genug. Sie
     schob das Papier zwischen die hölzernen Leisten der Bank und rannte los. Lane stürmte ihr nach. Die Abbruchkante der Klippe
     war nicht weiter als fünfzehn, zwanzig Meter entfernt.
    »Als Schuljunge habe ich für Rugby trainiert, das half mir jetzt«, sagte er mir später, »ich hechtete nach ihren Beinen undhoffte das Beste.« Es klappte. Er klammerte sich fest. Es ging im wahrsten Sinn des Wortes ums nackte Leben.
    Die Frau war alles andere als dankbar. De facto war sie fuchsteufelswild. Einige Tage später wollte er sie im Krankenhaus
     besuchen. Sie warf ihn hinaus. Aber irgendwann war sie ihm dann doch dankbar.
    Lane hatte eine Idee. Wenn er das Leben einer Selbstmordkandidatin hatte retten können, warum nicht auch das anderer? Warum
     sollte er nicht am Beachy Head Posten beziehen, aus genau diesem Grund? Das tat er auch.
    Im November 2009, fünfeinhalb Jahre nach dem Selbstmord seiner Frau, habe ich mit Keith Lane in Eastbourne ein Gespräch geführt.
     Er steht nicht mehr auf Posten. 29   Menschenleben hat er gerettet. Aber der Ärger mit den Behörden hat seinen Tribut gefordert. 5
    »Was machen Sie, wenn Sie sehen, dass sich jemand umbringen will? Was sagen Sie?«, fragte ich ihn.
    »Wenn wir uns in die Augen sehen, dann weiß ich, ich habe es geschafft«, antwortete er.
    Viele Leute wissen das
    Keith Lanes Erklärung wird niemanden erstaunen, der einmal in eine dicht befahrene Straße einbiegen wollte. Der Trick liegt
     darin, dass man den Blickkontakt zum ankommenden Fahrer sucht. Gelingt das, steigen die Chancen, vorgelassen zu werden, enorm.
     Deshalb ist es auch schwerer, sich an einem sonnigen Tag in eine Autoschlange einzufädeln als an einem bedeckten. Nicht unbedingt,
     weil die anderen Fahrer an einem regnerischen Tag besserer Laune sind, sondern weil an einem sonnigen Tag neunvon zehn eine Sonnenbrille tragen. Deshalb gelingt auch das Einfädeln bei Tag besser als in der Nacht. Oder andersherum. Wie
     oft haben Sie schon aus Unachtsamkeit einen anderen Fahrer geschnitten und anschließend den Blickkontakt um jeden Preis vermieden?
     Sie verstehen, was ich meine? Der Blickkontakt ist wie der Anblick eines süßen Babys ein archetypischer Schlüsselreiz der
     Beeinflussung. 6
    Zu Beginn seiner Schauspielerkarriere hat Michael Caine instinktiv erkannt, welche Macht die Augen, welche Überzeugungsmacht
     Blicke haben. Er wollte unbedingt sein Hollywood-Profil verbessern und trainierte heftig, um nicht zu blinzeln. Er hoffte,
     so die Intensität der Nahaufnahmen steigern zu können, in denen seine Augen riesengroß auf der Leinwand erschienen, und damit
     zu verhindern, dass er rausgeschnitten wurde. Caine ging intuitiv davon aus, dass die Menschen es lieben, wenn man ihnen

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