Gehirnfluesterer
darauf führt uns zurück in den Kampf ums Überleben. Es ist nichts Spezielles an den Augen selbst. Das Spezielle,
das uns anzieht, ist die Richtung ihrer Blicke. Im Verlaufunserer Evolutionsgeschichte muss es ein zentraler Hinweis auf eine mögliche Gefahrenquelle gewesen sein, wenn der Blick sich
plötzlich auf einen bestimmten Ort richtet. Und die Empfänglichkeit für solche Hinweise war gewiss ein beträchtlicher Vorteil,
wenn es darum ging, Gefahren zu vermeiden.
Um das nachzuweisen, haben Chris Friesen von der North Dakota State University und Alan Kingstone von der University of British
Columbia ein Experiment konstruiert, in dem die Macht solcher Aufmerksamkeitszeichen sichtbar wird. Das Experiment hat drei
Phasen. Während der ersten erscheinen in der Mitte eines Computerbildschirms für etwa eine halbe Sekunde schematisch gezeichnete
Gesichter mit leeren Augen. In der zweiten Phase erscheinen die Pupillen, die entweder geradeaus oder nach links oder nach
rechts blicken. In der letzten Phase erscheint dann auf der linken oder rechten Seite des Bildschirms ein Buchstabe (ein F
oder ein T), entweder in der gleichen oder in der entgegengesetzten Richtung, in die die Augen blicken. Friesen und Kingstone
wollten herausfinden, welche Wirkung die unterschiedlich gerichteten Blicke des Bildes auf unsere Aufmerksamkeit haben; ob
und wie sie den Prozess beeinflussen, bei dem wir Informationen aus unserer Umgebung verarbeiten. Kann die Blickrichtung die
Geschwindigkeit steigern, mit der die Versuchspersonen die Position des Ziels angeben könnten – oder hat sie nur geringen
Einfluss?
Schematische Gesichter mit unterschiedlichen Blickrichtungen, ähnlich, wie sie von Friesen und Kingstone verwendet wurden.
Das Ergebnis ist ganz einfach: Die wahrgenommene Blickrichtung beschleunigt Auffassung und Verarbeitung der Wahrnehmung. Genauer:
Die Versuchspersonen waren schneller in derLage, auf das Ziel, nämlich den Buchstaben, (nach rechts oder nach links) zu weisen, wenn der Buchstabe auf der Seite erscheint,
in die auch das schematisierte Auge blickt. Länger dauerte es, wenn der Buchstabe auf der entgegengesetzten Seite auftauchte.
Dann hat man ihn nicht gleich »im Auge«.
Schau mir in die Augen, Kleines
Friesens und Kingstones aufschlussreiches Experiment liefert einen plausiblen Beleg für den uns angeborenen Zwang, auf die
Augen unseres Gegenübers zu achten. Eigentlich wissen wir das ja schon lange. In den 1960er-Jahren ließ der Sozialpsychologe
Stanley Milgram eine Gruppe von Passanten auf einer Straße in den Himmel starren. Was geschah? Alle anderen Passanten taten
dasselbe. 8 Aber das ist noch nicht alles. Denn noch ist offen, ob die Hypothese des Aufmerksamkeitsreizes die ganze Wahrheit über Blicke erzählt. Man denke zum Beispiel an die Aufmerksamkeitsdefizite autistischer Menschen.
Autistische Kinder bestätigen die Ausnahme von der Regel, denn sie konzentrieren sich nicht auf Augen und Blicke, sondern
auf die Mundpartie. Wenn diese Kinder älter werden, verlieren sie auch die Fähigkeit zu »sehen« – kognitiv wie emotional verstanden –, »woher« andere Menschen kommen. Dies Defizit ist bekannt als das Fehlen einer »Theory of Mind« (ToM), der Fähigkeit, sich
in andere hineinzuversetzen. 9 Die meisten Kinder erwerbenAnfänge dieser Fähigkeit im Alter von etwa vier Jahren. Bestätigt hat das ein Experiment, das Sally-Anne-Test genannt wird.
Bis zum Alter von vier Jahren werden Kinder in der Regel die falsche Antwort geben: in der Kiste. Sie wissen zufällig, wo
sich die Murmel inzwischen befindet, und können sich nicht vorstellen, dass andere das nicht wissen. Vom Alter von vier Jahren
an aber entwickelt sich die richtige Antwort – gleichzeitig mit dem neurologischen Prozess, der zur Entwicklung eines Bewusstseins
vom eigenen Selbst führt und damit zur Unterscheidung des eigenen Bewusstseins von dem anderer.
Bei autistischen Kindern geschieht das nicht. Aus einer auf soziale Prozesse gerichteten neurowissenschaftlichen Perspektive
ist das hochinteressant. Autismus ist im klinischen Spektrum die einzige Störung, die mit dem Fehlen einer Theory of Mind
einhergeht. Es ist auch die einzige Störung, bei der die Unfähigkeit, Blickkontakte herzustellen, einen Hauptschlüssel der
Diagnose bietet. Möglicherweise ist die angeborene Ausrichtung unserer Wahrnehmung auf Augen oder Blicke genauso wie die Fähigkeit,
eine Gefahr zu
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