Gehirnfluesterer
Wir fahren so lange nicht weiter, bis du den Gurt angelegt hast.‹
Ich zeigte zum Van. ›Da drin sitzen vierzehn deiner Kumpel, und alle wollen sie in den Zoo. Je länger wir hier stehen und
diskutieren, desto wenigerZeit bleibt für den Besuch. Wie ist es? Steigst du ein und legst den Gurt an, damit wir weiterkommen?‹ Das hatte augenblicklich
Erfolg. Keine fünf Sekunden musste er nachdenken, bis er wieder einstieg. Und er hat solche Spielchen nicht wieder gespielt.«
Die Sehnsucht, dazuzugehören
Der Sinn von Newmans Umgang mit dem Problem wird für seine Kollegen keine große Überraschung sein. Gewiss bestehen Unterschiede,
viele Jugendliche sind durchaus lenkbar. Bei denjenigen, die schwer zu lenken sind, finden sich, wie neuere Studien erwiesen
haben, leichte neuronal-anatomische Abweichungen – genauer: stärkere Verbindungen zwischen Regionen der Frontallappen und
anderen Bereichen des Gehirns. Es gibt auf jeden Fall einen Trend – und unzählige Eltern werden das bestätigen –, den man kaum wegdiskutieren kann.
Das
young male syndrome
ist ein Verhaltensmuster, das forensischen Psychologen und Kriminalbeamten gleichermaßen bekannt ist. In der Bevölkerungsgruppe
der Heranwachsenden und junger Männer bis Mitte zwanzig finden sich die Mitglieder der Bevölkerung, die am wahrscheinlichsten
töten oder selbst getötet werden. Vermutlich ist es auch kein Zufall, dass dieser Lebensabschnitt die Zeit der schärfsten
Konkurrenz um Sexualpartnerinnen ist.
Bei oberflächlicher Betrachtung mag es ganz unbegreiflich erscheinen, dass der Ausgangspunkt für Mord und schwere Körperverletzung
oft ganz banale verbale Auseinandersetzungen sind, die eskalieren und außer Kontrolle geraten. Wirklich überraschend ist das
nicht. Hier machen sich evolutionsgeschichtliche Verbindungen bemerkbar, die von den Poolbillardtischen und den Tanzflächen
innerstädtischer Clubs weit zurück in die Wälder und Savannen unserer Vorfahren führen. Von dort kommt die Urahnung, dass
es weniger darauf ankommt, wie wir selbst uns sehen, als darauf, wie die
anderen
uns sehen. DasSamstagnacht in London oder New York ist nichts grundsätzlich anderes als eine Nacht in einer Savanne des urgeschichtlichen
Ostafrika. Weniger Gedränge vielleicht, aber die gleiche Dynamik.
Fakt ist, dass Männer um Mitte zwanzig mit sechs Mal größerer Wahrscheinlichkeit zu Opfern von Mord oder Totschlag werden
als Frauen. Wobei die Mehrzahl dieser Tötungsdelikte – und darin liegt der Schlüssel – im Beisein von Zuschauern verübt wird,
auf der Straße, in einer Kneipe oder einem Club. Solche Taten haben den Charakter öffentlicher Werbung. Aber für was?
Vor einigen Jahren habe ich einen Sexualstraftäter interviewt, der eine Frau mit vorgehaltenem Messer vergewaltigt hat. Zwei
seiner Freunde waren ebenfalls beteiligt. Warum er das getan habe, fragte ich ihn. Mit der für einen Psychopathen typischen
eisigen Gleichgültigkeit zuckte er mit den Schultern. »Das ist nichts anderes als eine Runde, die man in der Kneipe schmeißt.
Man bekommt das Gefühl von Gleichheit. Von Kameradschaft.«
In der Literatur findet man das bestätigt. Es gibt, wie niemand bestreiten wird, eine heimtückische Verbindung von Gruppenidentität
und Gewalt. Wobei diese Dynamik von beiden Polen her gesehen werden kann. Gewalttätiges Verhalten kann dazu beitragen, den
Zusammenhalt einer Gruppe zu fördern. Dazu der klinische Psychologe Nicholas Groth: »Eine besondere Dynamik, die in der Gruppe
verübte Vergewaltigungen kennzeichnet, ist die Erfahrung von Einklang, Kameradschaft und Kooperation unter den Tätern. Es
sieht so aus, als ob der Täter das Opfer als Vehikel zur Interaktion mit anderen Männern benutzt … Er verhält sich so, wie es die anderen seiner Meinung nach von ihm erwarten … Er bestätigt sich selbst und partizipiert gleichzeitig an der Gruppenaktivität.«
Ein ähnliches Phänomen findet man unter Schwulen. Es gibt, wie mir ein Schwuler im Gespräch bestätigte, so etwas wie »Selbstmord-Bumsen«:
Gesunde Männer suchen gezielt sexuelle Kontakte zu HIV-positiven Partnern, lassen sich penetrieren und klemmen anschließend
das Rektum zusammen, um die Körpersäftedes anderen bei sich zu behalten. In der Szene heißt dies: »die Spende empfangen«. 6
Ich fragte einen dieser Männer, warum er so was tut.
»Man fühlt sich dann irgendwie mehr als Teil des Geschehens. Als ob man mehr
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