Gehirnfluesterer
Johns Fahrweise strenger beurteilen wird als Sie. Habe ich recht? Ohne Zweifel, denn im ersten Szenario bretterte John nach
Hause, um ein Geschenk zum Hochzeitstag seiner Eltern zu verstecken. Im zweiten Fall war Kokain im Spiel. Es erscheint uns
sträflicher, wenn einer wegen Kokain mit überhöhter Geschwindigkeit fährt als wegen des Geschenks für die Eltern. Doch warum
eigentlich? Was immer er auf dem Küchentisch liegen gelassen hatte – Fakt ist, dass er zu schnell fuhr und deshalb einen Unfall
verursachte. Was ändert das Kokain daran?
Vielleicht fühlen Sie sich jetzt persönlich hereingelegt. Das ist nicht der Fall. Die beiden Szenarien wurden im Rahmen eines
Experiments des Psychologen Mark Alicke Studenten der Universityof Ohio vorgelegt. Und tatsächlich fielen auch deren Antworten genau so aus wie Ihre und die Ihres Freundes. Sofern John auf
dem Weg nach Hause ist, um das Geschenk zum Hochzeitstag seiner Eltern zu verstecken, hat die Unfallursache sowohl »etwas
mit John« als auch »mit der Situation« (mit der überhöhten Geschwindigkeit und der Ölspur) zu tun. Wenn er jedoch nach Hause
fährt, um seine Drogen zu verstecken, wird daraus eine ganz andere Geschichte. Jetzt sehen wir nur noch ihn und seine Motive.
Irgendwie erscheint er »schuldiger«. Und je schuldiger uns jemand erscheint, desto eher schreiben wir seinen Handlungen, wenn
diese böse Folgen haben, eine innere, veranlagungsbedingte Ursache zu.
Der Schein trügt
Ein Mann hat fast sämtliche Vorbereitungen für seine Hochzeit erledigt. Alles läuft gut, dann aber kommt die Sache mit der
äußerst attraktiven jüngeren Schwester seiner Braut.
Eines Nachmittags, eine Woche vor dem großen Tag, ist er allein mit ihr im Haus. Sie macht sich an ihn heran, bedrängt ihn:
Ob sie nicht zusammen nach oben gehen sollten, bevor er den Segnungen des Ehelebens teilhaftig wird? Der Mann gerät in Panik.
Er überlegt rasch, wie er sich verhalten soll, stürmt schließlich aus dem Haus – und stößt draußen im Vorgarten auf die Familie
des Mädchens, die auf ihn wartet und ihn nun mit großem Applaus empfängt.
»Gratuliere«, sagt sein zukünftiger Schwiegervater, »du hast die Probe bestanden. Hast bewiesen, dass du ein ehrenwerter und
integrer Mann bist, und ich werde dir die Hand meiner Tochter sehr gerne geben.« Der Mann, noch ein wenig ungläubig, atmet
erleichtert auf. Seine künftige Frau drückt ihm einen dicken Kuss auf die Wange. Und die Moral von der Geschichte? Vergiss
nie, deine Kondome im Auto zu vergessen.
Der Irrtum, den auch Sie wahrscheinlich gerade begangen haben – und die Falle, in die wir mit John, seinen Drogen und demGeschenk zum Hochzeitstag geraten sind –, ist nicht mehr und nicht weniger als die Bestätigung für zahllose Untersuchungen in der Sozialpsychologie, die sich mit
der Frage befassen, wie unser Gehirn uns austrickst: Der Computer hinter unseren Augen, der komplexeste der Welt, kann sich
im Bruchteil einer Sekunde in das komplexeste Furzkissen verwandeln. Solche kognitiven Blähungen – die unwiderstehliche Neigung,
das Verhalten eines Menschen eher nach inneren, veranlagungsbedingten als nach äußeren, situationsbedingten Faktoren zu bewerten
(besonders wenn dieses Verhalten unser eigenes und zufällig gut beziehungsweise das von jemand anderem und zufällig schlecht
ist) – haben in der Psychologie einen Namen:
fundamentaler Attributions- oder Zuschreibungsfehler
. Mit gutem Grund. Denn diese Fehlleistung ist tatsächlich von fundamentaler Bedeutung.
Belegt wird dies von einer Studie, die Lee Ross, Professor für Sozialpsychologie an der Stanford University, durchgeführt
hat. Zunächst mussten je zwei Studenten Karten ziehen, um festzulegen, wer von ihnen in einem Quizspiel die Rolle des Fragenstellers
und wer die des Teilnehmers spielen sollte. Jeder Quizmaster bekam nun eine Viertelstunde Zeit, sich Fragen aus dem Bereich
»Allgemeinbildung« zu überlegen. Eine Bedingung komplizierte die Sache: Die Fragen mussten so ausgedacht sein, dass die Antworten
aller Wahrscheinlichkeit nach nur dem Fragenden selbst bekannt waren. Dennoch lagen fast alle Teilnehmer mit ihren Antworten
richtig. Doch darauf kam es bei diesem Experiment gar nicht an. Vielmehr wurden am Ende des Quiz alle Beteiligten – Quizmaster, Teilnehmer und einige Beobachter, die dem Ganzen nur beigewohnt hatten – gebeten, das Allgemeinbildungsniveau
jeder einzelnen
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