Gehirnfluesterer
und Verführung, von einfachen Bewusstseinsveränderungen bis zum totalen
Umsturz bisheriger Weltanschauungen; von den Trivialitäten des Alltagslebens bis zu Fragen von Leben und Tod.
Erinnern Sie sich an Solomon Asch und seine »Linien-Studie« im vorigen Kapitel? Es schien so offensichtlich, welche Antwort
die richtige war. Man konnte sehen, welche Linien gleich lang waren und welche nicht. Doch sobald man ein paar Abweichler
in die Gruppe einschleuste – Leute, die ihre abweichende Meinung selbstsicher, konsequent und eindeutig vertraten –, waren die Dinge plötzlich komplizierter. Die Versuchspersonen sahen die Linien nicht so, wie sie waren, sondern so, wie
andere Menschen um sie herum sie wahrnahmen.
Und das kann gefährlich werden – sobald nämlich aus den Linien Dogmen werden und sobald es um Ideologien geht.
Überzeugung durch Menge
Wie leicht es ist, eine Gruppe moderater – wenn auch zu einem Thema voreingenommener – Individuen zu radikalisieren, zeigt
sich, wenn man einen Vorgang genauer untersucht, der
Gruppenpolarisierung
genannt wird. Mit diesem Begriff wird erfasst, was mit den Meinungen von Individuen passiert, wenn sie sich zu einer Gruppe
zusammenfinden. Sie werden extremer. Das können Sie auch bei sich selbst und Ihren Freunden sehen. Bitten Sie zunächst jeden,
sich eine individuelle Meinung zu einem Thema zu bilden. Zum Beispiel dazu:
Ein Undercover-Agent, der hinter den feindlichen Linien operiert, wird vom Gegner geschnappt und zu zwanzig Jahren Zwangsarbeit
in einem abgelegenen Lager verurteilt. Die Bedingungen dort sind extrem hart, die Chancen der Befreiung gering. Der Agent,
in Abwägung seiner Lage – er sieht sich die Blüte seiner Jahre in tiefem, endlosem Elend verbringen –, beginnt Fluchtpläne zu schmieden. Doch wenn sein Plan scheitert und er erneut geschnappt wird, muss er mit seiner Hinrichtung
rechnen.
Frage: Angenommen, Sie sollten dem Agenten raten, wie hoch wäre das Risiko, das Sie noch akzeptabel fänden, ab wann würden
Sie von einem Fluchtversuch abraten? Wählen Sie unter folgenden Möglichkeiten. Die Zahlen der Skala stehen für die Wahrscheinlichkeit
einer erfolgreichen Flucht:
Nachdem Sie die Einzelmeinungen abgefragt haben, bringen Sie Ihre Freunde an einen Tisch und bitten sie, die gleiche Frage
nun als Gruppe zu diskutieren – mit dem Ziel, zu einer gemeinsamen Empfehlung zu finden. Sie werden Folgendes erleben: Wenn
der Durchschnitt der Einzelmeinungen unter 5 / 10 liegt, wenn die meisten also zur Vorsicht neigen, dann wird sich die Gruppenmeinungnoch weiter in diese Richtung verschieben: Wenn aber die Tendenz der Einzelmeinungen über 5 / 10 liegt, also in Richtung Risiko geht, dann wird sich die Gruppenmeinung weiter in diese Richtung verschieben.
Die Wirkung der Gruppenpolarisierung wurde in diversen Settings untersucht, unter anderem bei Pferdewetten, in Einkaufszentren
und im Hinblick auf Entscheidungsprozesse von Einbrechern. Bei diesen Befragungen ergab sich immer dasselbe Muster. In der
Gruppe geben Sie mehr Geld aus als alleine. Es sei denn, Sie wollen gemeinsam einbrechen … Wie es scheint, sind Einbrecher in der Gruppe weniger risikofreudig.
Die wichtigsten Untersuchungen haben sich mit der Relation dieses Phänomens zu Vorurteilen – und in letzter Zeit zum Anstieg
von Extremismus – befasst. Das Ergebnis: Sobald vorurteilsbeladene Individuen zum Beispiel die Rassenfrage in einer Gruppe
diskutieren, verhärten sich die Einstellungen, die Vorurteile verstärken sich. Umgekehrt steigt in einer Gruppe, in der Menschen
mit weniger Vorurteilen sitzen, die Toleranz.
Viele terroristische Organisationen nutzen diese Mechanismen für die Rekrutierung neuer Mitglieder. Sie sprechen Einzelne
an, von denen sie wissen, dass sie sympathisieren (zunächst nur ganz allgemein). Dann bringen sie diese in Gruppen zusammen,
legen ihnen Propagandamaterial vor und lassen sie die »Sache« diskutieren.
Shehzad Tanweer – einer der Londoner Rucksackbomber – wurde von seinen Freunden als politisch gemäßigt beschrieben. An der
Schule in England hatte er sich als vielversprechender Sportler erwiesen, als Cricket-Spieler, Fußballer und Langläufer. 2004
machte er an der Leeds Metropolitan University einen Abschluss in Sportwissenschaften. Danach ging er nach Pakistan und absolvierte
einen Kurs in »Islamstudien«, und zwar in einer Koranschule in Lahore, die
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