Gehirnfluesterer
Vorteil hervor,
den jemand hat, der in der politischen Arena des Gedankenlesens fähig ist: »Der erfolgreichste Politiker ist derjenige, der
sagt, was die Leute am häufigsten und mit lautester Stimme denken.« Oder, wie jemand anders noch bündiger formulierte: »Ein
Pferd lenkt man am besten in die Richtung, in die es sowieso läuft.« Tatsächlich hat Luntz Roosevelts Gedanken in die Gegenwart
geholt. Mit Hilfe von politischem Wissen und diskursiver Psychologie sucht er quasi hinter den Kulissen einen Zugang zum Gehirn
zu finden und linguistische Röntgenaufnahmen semantischer Formen zu erstellen. Damit werden auch die Haarrisse und mikroskopisch
kleinen Tumore sichtbar, die jede Kommunikation stören und verzerren können.
Nehmen Sie einen Ausdruck wie »Ölbohrung«, einen auf den ersten Blick eindeutigen und klaren Begriff. 2007 zeigte Luntz einer
Gruppe das Bild eines Tiefseebohrprojekts im Golf von Mexiko. Die Versuchspersonen sollten erläutern, wie sie das Bild sehen:
als »Ölbohrung« oder als »Ölsuche«? 90 Prozent der Befragtengaben an, es sehe nach Ölsuche aus. Luntz kommentiert: »Wenn die Leute, nachdem sie sich die Bilder angesehen haben, sagen:
›Das sieht nicht aus wie Ölbohrung, sondern wie Ölsuche‹, sollten wir den Vorgang dann nicht genau so nennen, wie ihn die
Leute sehen, und keine politischen Aspekte hineinmischen? … Bohren legt nahe, dass Öl ins Meer fließt. Aus den Bohrinseln ist kein einziger Tropfen ausgelaufen. Deshalb ist Ölsuche
oder Tiefseeexploration der korrektere Begriff.« Deepwater Horizon, die Ölbohrplattform, die 2010 im Golf von Mexiko explodierte
und zur schwersten Umweltkatastrophe dieser Art in der Geschichte führte, wurde ebenfalls Explorationsplattform genannt und
im Auftrag von BP Exploration betrieben.
Im Jahr 2002 – als die wissenschaftliche Beweislage noch nicht so zwingend war wie heute – verordnete Luntz dem Begriff »Erderwärmung«
eine ähnliche Rehabilitation. 3 In einem Memorandum an George W. Bush schrieb er unter dem Titel ›The Environment: A Cleaner, Safer, Healthier America‹: »Die wissenschaftliche Debatte steht vor dem Abschluss [gegen uns], aber
sie ist noch nicht abgeschlossen. Es besteht immer noch die Möglichkeit, die Wissenschaft herauszufordern … Die Wähler glauben, die Wissenschaftler seien sich über die Erderwärmung nicht einig. Wenn die Öffentlichkeit zu der Einstellung
kommen sollte, dass die wissenschaftlichen Fragen geklärt sind, werden sich ihre Ansichten über die Erderwärmung entsprechend
ändern. Deshalb sollten Sie weiterhin den Mangel an wissenschaftlicher Gewissheit zu einem Hauptpunkt in der Debatte machen
und im Übrigen den Wissenschaftlern und anderen Experten auf diesem Gebiet folgen.«
Und das Ergebnis war tatsächlich, dass sich der Begriff »Erderwärmung« in der Öffentlichkeit in etwas Behaglicheres verwandelte,
weil er nicht so alarmistisch, nicht so aufgeladen klang. Eben nicht wie »Klimawandel«.
Zusammenfassung
In diesem Kapitel haben wir betrachtet, was man, der Einfachheit halber, kognitive Beeinflussung nennen könnte. Sie erinnern
sich an Keith Barrett, das psychopathische Genie, das Naturtalent im Überzeugen. Er hat uns die drei A’s des sozialen Einflusses
genannt: Aufmerksamkeit, Annäherung, Anbindung. Wir sind der Frage nachgegangen, ob diese Typologie den Ergebnissen der wissenschaftlichen
Forschung entspricht. Durchaus, wie sich herausgestellt hat.
Wir haben die Tür noch etwas weiter geöffnet und sind aus dem Schatten ins Freie, in die Welt der Arbeit getreten, um zu sehen,
wie die Großmeister professioneller Beeinflussung, dieses Mal ganz legal, wie Anwälte, Politiker, Werbeprofis und Verkäufer
in unsere Gedanken eindringen und ihren Kurs geschickt beeinflussen.
Diese Überprüfung war recht erhellend. Das Gehirn hat eine einfache Hausordnung, und wenn man weiß, wie man davon profitiert,
dann ist man nicht schlecht im Überzeugen.
Im folgenden Kapitel gehen wir zum nächsten Level, vom Individuum zur Gruppe. Suggestion und Framing machen unseren freien
Willen manchmal zunichte, aber noch mehr Einfluss hat das, was die
anderen
tun. In den Tagen unserer Vorfahren lag die Sicherheit in der Gruppe, und dieser alte evolutionäre Imperativ ist in unserem
Hirn wie in einer Tiefkühltruhe konserviert.
[ Menü ]
Beeinflussung durch Menge
Ein Ire liegt auf dem Sterbebett. Sein Sohn sitzt bei ihm. Der
Weitere Kostenlose Bücher