Gehirnfluesterer
Schwarze ist und wie er denkt. Obama hat geschrieben, Rasse sei seine ›Obsession‹
gewesen, als er aufwuchs, doch habe er diese Bürde seit langem abgeschüttelt. Jetzt beansprucht er das ganze Spektrum für
sich: ›Der Sohn eines Schwarzen aus Kenia und einer Weißen aus Kansas‹ mit ›Brüdern, Schwestern, Nichten, Neffen, Onkeln und
Cousins diverser Rassen und Hautfarben und aus drei Kontinenten‹.«
Das mag wohl der Wahrheit entsprechen. Aber einen Nutzwert hatte diese Haltung auch.
Quintessenz
Frank Luntz, dem wir zu Anfang dieses Kapitels begegnet sind, arbeitet mit Fokusgruppen, um der Macht der Sprache auf die
Spur zu kommen. Er will den perfekten Satz entdecken, ein goldenes Wort, Wendungen, die keiner Deutung bedürfen, sondern den
Zeitgeist treffen und genau das aussagen, was die Wähler hören sollen – was die Politiker sie hören lassen wollen. Eine semantische
Saite mit der perfekten Resonanz zum Klingen bringen.
Luntz ist ein linguistischer Sporttaucher – ein Pirat des idiomatischen Unbewussten. Zunächst streut er Schlagwörter aus –
politische Schlüsselbegriffe, vertraute Topoi und Klangbytes –, zu denen die Mitglieder seiner Fokusgruppen frei assoziieren sollen. Diese freien Assoziationen werden dann in Wörter oderSätze aufgeschlüsselt und bilden die Grundlage für die anschließenden Gruppendiskussionen. Aus diesen filtert Luntz eine dritte
Wortgeneration; nach weiteren Gesprächsrunden eine vierte und fünfte. Was dabei herauskommt, ist reine Essenz: ein mehrfach
vom eingangs präsentierten Wort oder Satz abgezogenes, gleichwohl mit der ursprünglichen Konnotation durchtränktes Bedeutungsdestillat.
Ein neues Wort oder ein neuer Satz, die buchstäblich meinen, was sie sagen. Und die später – auf Kundgebungen, im Fernsehen,
in den Zeitungen – strategisch recycelt werden.
Im Jahr 2000 nahm Nicholas Lemann, Korrespondent des ›New Yorker‹, an einer von Frank Luntz’ Fokusgruppen teil und verschaffte
sich aus erster Hand einen Eindruck von dieser linguistischen Alchemie. Die Sitzung begann mit dem Wort »Regierung«. Was,
fragte Luntz die Runde, bedeute das Wort für sie? Zunächst kamen Standardantworten: »Kontrolle«, »Gesetze«, »Sicherheit«,
»Bürokratie«, »Korruption«. Nichts Überraschendes. Dann platzte einer der Teilnehmer, ein Unternehmer, mit folgenden Worten
heraus: »Viele Vorschriften … lauter Zeug, das ich nicht brauche. Sie könnten mich einfach in Ruhe lassen. Mein Unternehmen stünde besser da, wenn ich
zwei Dinge hätte: weniger Vorschriften und mehr Unterstützung.«
Damit wurde die Sache spannend. Denn nun hatte Luntz einen Angriffspunkt, und mit dem Gespür eines Judomeisters für eine passende
Eröffnung stieg er ein. Fragte die anderen in der Gruppe: »Was würden Sie dazu sagen?«
Nach längeren Invektiven der Teilnehmer gegen Gesetze und Vorschriften, Politiker und überhaupt ganz Washington schrieb er
fünf Schlüsselwörter an die Tafel: »Chance«, »Gemeinschaft«, »Verantwortung«, »Vertrauenswürdigkeit«, »Gesellschaft«.
Luntz bohrte tiefer. Wenn sie über ihre wichtigsten Werte nachdächten – die Dinge, die ihnen in ihrem Leben wirklich etwas
bedeuteten –, welchen der fünf Begriffe würden sie an die erste Stelle setzen? Die Hände gingen hoch, und die Antwort war schnell klar:
»Chance« führte die Liste an, gefolgt von »Verantwortung«, den Schluss bildete »Gemeinschaft«.
»Was aber bedeutet der Begriff ›Chance‹ genau?«, war die nächste Frage.
Es hagelte Antworten: »Das Recht zur freien Entscheidung«, »Persönliche Freiheit«, »Keine Hindernisse«, »Jeder bekommt eine
Chance«, »Der Grundgedanke Amerikas«. Luntz nahm ein neues Blatt seiner Flipchart.
Man debattierte über diese Kernelemente der Demokratie, diese Mitochondrien der Freiheit, und wieder entstand eine Rangordnung,
indem das Wesentliche an »Regierung« herausgefiltert wurde. Dieses Mal gewann »Der Grundgedanke Amerikas« Gold, »Jeder bekommt
eine Chance« Silber und »Recht zur freien Entscheidung« Bronze.
Luntz wandte sich an Lemann. »Hier haben Sie die republikanische und die demokratische Definition von Chance. Die republikanische
ist ›Das Recht zur freien Entscheidung‹, die demokratische ›Jeder bekommt eine Chance‹. Individuell versus allgemein.«
Solche semantischen Strategien sind natürlich nicht neu. Kurz nach 1900 hob Theodore Roosevelt als Erster den
Weitere Kostenlose Bücher