Gehirnfluesterer
durch die Sozialpsychologie und in abgemilderter Form auch durch die Kognitive Psychologie, wo die Fachleute
Mutmaßungen über die neurologischen Vorgänge anstellten, die seine Schlussfolgerungen untermauern konnten. Im Zentrum seiner
Versuchsanordnung standen Nachbilder – jene geisterhaften Schatten, die vor unseren Augen flimmern, wenn wir zu lange auf
bestimmte Farbflächen schauen. Vor allem ging es ihm um die negativen Nachbilder – die eine zum ursprünglichen Reiz ganz unterschiedliche
Farbtönung annehmen.
Wirkte die Minderheit wirklich anders als die Mehrheit? Erzeugte sie tiefere, dauerhaftere, strukturellere Veränderungen der
Überzeugung? Erzeugte sie eine Veränderung, die stärker ist als einfache Anpassung? Den Schlüssel dazu sollte die Farbe der
Nachbilder liefern. Nach den Gesetzen der Wahrnehmung waren sie unveränderbar. Oder konnten sie doch beeinflusst werden?
Die Studie hatte vier Phasen. In Phase Nr. 1 wurde den Teilnehmern eine Folge von Dias mit variierten Blau-Grün-Tönen gezeigt. Nach jedem Bild sollten sie aufschreiben,
welche Farbe sie gesehen hatten, anschließend auf eine weiße Leinwand schauen, um sich visuell zu »entgiften«, und dann aufschreiben,
welche Farbe das Nachbild hatte, das sie dort sahen. Es sollte nach einer Neun-Punkte-Skala beurteilt werden, die von Gelb/
Orange (dem Nachbild von Blau) bis zu Rosa/Purpurrot (dem Nachbild von Grün) reichte.
Nachdem dieser vorbereitende Schritt abgeschlossen und die Ergebnisse festgehalten waren, teilte Moscovici die Versuchspersonen
in zwei Gruppen auf. Der einen Gruppe wurde gesagt, ein bestimmter Anteil einer früheren Versuchsgruppe (18,2 Prozent) habe die Dias als
grün
wahrgenommen, die übrigen (81,8 Prozent)als
blau
. Der zweiten Gruppe wurde das Gegenteil gesagt: 18,2 Prozent einer Vorgängergruppe hätten die Dias als
blau
bezeichnet, die Mehrheit als
grün
. Das war glatt gelogen – aber ausreichend, um in den Köpfen der Beteiligten eine »Minderheiten-« und eine »Mehrheitenposition«
zu installieren.
Dann wurde es ernst. Beiden Gruppen wurden neue Diaserien vorgeführt – insgesamt fünfzehn dieses Mal, alle mit der gleichen
blaugrünen Schattierung wie die ersten. Die Aufgabe war nun, den Farbton laut zu nennen. Damit begann Phase 2, die »Einflussphase«.
Aber die Sache hatte einen Haken.
Zu diesem Zeitpunkt bekamen die Versuchspersonen Gesellschaft, jemanden, der bei jedem Dia laut GRÜN rief. Allen Ernstes.
Nichts anderes. GRÜN.
Und noch etwas kam hinzu. Dieses Mal mussten die Versuchspersonen nicht nur die Farbe der Dias laut nennen, sondern auch die
Farbe eines jeden Nachbildes, wieder auf der Basis der Neun-Punkte Skala. Wenn Moscovicis Theorie wasserdicht war, dann mussten
sich die »ursprünglichen« Nachbilder aus Phase 1, nachdem sie in Phase 2 dem Minderheiteneinfluss ausgesetzt waren, in Richtung
auf Rosa/Purpur am Ende des Spektrums, dem Nachbild von Grün, verändern. Denn eine einheitliche und einvernehmliche Minderheitenmeinung,
so behauptete Moscovici ja, bringe die Leute zum Umdenken. Insbesondere – und das ist wichtig –, wenn kein Eigennutz damit verbunden ist. Denn eine solche Haltung löst grundlegende Fragen aus. Warum haben die diese andere
Meinung? Warum diese Abweichung von der Norm? Wenn dabei nichts für sie herauskommt, wenn sie keinen persönlichen Vorteil
davon haben, dann, ja, dann – muss wohl etwas dran sein, oder nicht? Vielleicht haben sie recht. Vielleicht ist es tatsächlich
so. Vielleicht ist das Dia wirklich grün …
Bei allen, die unter dem Einfluss der Mehrheit standen, also denjenigen, denen gesagt worden war, eine Mehrheit habe die Bilder
als grün betrachtet, durfte es keine solche Veränderung der Nachbilder geben. Die Mehrheit, Sie erinnern sich, berührt nur
die Oberfläche. Die davon Betroffenen mochten wohl, soüberlegte Moscovici, sich der Mehrheitsmeinung anschließen und auch öffentlich behaupten, dass die Bilder grün seien. Aber
wenn sie die Angelegenheit für sich betrachteten, ohne sich hinter dem Schleier der sozialen Selbsterhaltung zu verbergen,
war das eine andere Geschichte. Denn sie würden im Grund ihres Herzens nicht wirklich glauben, was sie da sagten. Natürlich
nicht – denn die Dias waren blau. Und das Nachbild würde die korrespondierende Farbe haben, wie vorher auch. Es ging nur um
das anderslautende öffentliche Statement.
Die Ergebnisse dieser Studie
Weitere Kostenlose Bücher