Gehirnfluesterer
Pointe. De facto trug nur ein Drittel der Teilnehmer das Wort SEX im Gesicht. Bei den anderen war es
irgendeine sinnlose Buchstabenfolge oder das Wort war auch gar nicht mit Sonnenschutzcreme, sondern mit Wasser aufgemalt.Machte das einen Unterschied? Mitnichten. Allein deswegen, weil sie glaubten, es wäre auf ihrem Gesicht geschrieben, suchten
sie nach Bestätigung dafür. Und fanden sie erstaunlich leicht, wie sich herausstellte.
Glauben ist Sehen
Leider sind Jonestown und London keine Einzelfälle. Im März 1997 tranken 39 Mitglieder des Heaven’s-Gate-Kults auf Geheiß ihres Anführers Marshall Applewhite einen tödlichen Cocktail aus Wodka und Schlafmitteln
und sorgten mit einer Plastiktüte über dem Kopf noch dafür, dass ja nichts schiefging. Sie glaubten, dass ein Raumschiff sie
von der Erde abholen würde. Man fand sie ordentlich in ihren Betten liegend, alle in schwarzen T-Shirts und kurzen Hosen, mit brandneuen Sportschuhen an den Füßen und einem Armband mit der Aufschrift »Heaven’s Gate-Außenmannschaft«.
Aber in den Weltraum hatten sie es nicht geschafft.
Man könnte darüber lachen, wenn es nicht so traurig wäre. Und wenn ihr bizarrer Glauben nicht so eine entsetzliche innere
Logik gehabt hätte, die sich hinter dem psychologischen Stacheldraht entwickelte, mit dem sich die Gruppe gegen die Außenwelt
abschottete. Sektenführer versammeln ihre Gemeinde oft an abgelegenen Orten. So sind die Mitglieder keinen ideologischen Einflüssen
von außen ausgesetzt und kultivieren das, was Psychologen
Gruppendenken
nennen.
In den 1970er-Jahren hat Irving Janis bahnbrechende Forschungen dazu angestellt. Ihm zufolge bedeutet Gruppendenken »eine
Denkweise, die Menschen entwickeln, die tief verbunden sind mit einer zusammenhängenden Gruppe, deren Mitglieder so stark
nach Einmütigkeit streben, dass jede Motivation, über Alternativen des Handelns nachzudenken, schwindet«. Eine Liste der Symptome
des Gruppendenkens sieht folgendermaßen aus: Ein Gefühl der Unverletzlichkeit erzeugt überschäumenden Optimismus und ermutigt
zu Risiken; Warnungen, diedie Gruppenmeinung in Frage stellen, werden nicht beachtet; der nicht in Frage gestellte Glaube an die Moral der Gruppe veranlasst
ihre Mitglieder, die Konsequenzen ihres Handelns zu ignorieren; Andersdenkende werden stereotyp beurteilt; auf »illoyale«
Gruppenmitglieder mit abweichender Meinung wird Druck ausgeübt; jeder Gedanke, der vom offensichtlichen Gruppenkonsens abweicht,
wird verworfen; die Illusion der Einmütigkeit wird erzeugt; es gibt selbsternannte »Gedankenwächter«, Gruppenmitglieder, die
alle vor abweichenden Meinungen abschirmen.
Niemand ist immun gegen den Bestätigungszwang. Wir haben ihn alle. Wenn man zwei gegnerischen Fußballfans denselben Zweikampf
auf dem Feld zeigt, dann ist es für den einen ein Foul und für den anderen eine faire Attacke. Aufgrund unserer stammesgeschichtlich
geprägten Vorfahren, die in den gefährlichen Weiten des alten Afrika eng zusammenhalten mussten, lebt das besonders in Situationen
wieder auf, in denen die Gruppenzugehörigkeit evident ist.
Nehmen wir zum Beispiel die berüchtigte Festnahme des Harvard-Professors Henry Louis Gates in seinem Haus in Boston im Sommer
2009. Er war gerade von einer China-Reise zurückgekommen.
Was wissen wir darüber?
Gates, der schwarz ist, erzählte Folgendes: Er konnte die Haustür nicht öffnen, weil sie blockiert war. Er und der ebenfalls
schwarze Taxifahrer versuchten sie aufzubrechen. Dann, so sagte er, versuchte er durch die Hintertür ins Haus zu kommen, und
telefonierte gerade mit der Hausverwaltung, als die Polizei eintraf.
Die Polizei sagte, Gates wurde wütend, als Sergeant James Crowley, der weiß war, ihn bat, sich auszuweisen. Es hieß, Gates
habe Crowley als Rassisten beschimpft, wollte sich nicht beruhigen und sei schließlich festgenommen worden.
Gates beharrte darauf, dass er Crowleys Bitte nachgekommen sei und seinen Ausweis gezeigt habe. Er sagte, Crowley habe ihn
festgenommen, nachdem er dem Polizisten nach draußen gefolgtsei, wobei er mehrfach um seinen Namen und die Dienstnummer bat, weil er sich schlecht behandelt fühlte.
Crowley hat jede Art von Entschuldigung verweigert, weil er sich, wie er sagt, strikt an die Dienstvorschriften gehalten habe.
Aus der Diskrepanz zwischen diesen Beschreibungen geht hervor, dass eine der Parteien es mit der Wahrheit nicht so genau nimmt.
Aber
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