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Gehirnfluesterer

Gehirnfluesterer

Titel: Gehirnfluesterer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Dutton
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waren wirklich unglaublich. Für manche im wahrsten Sinn des Wortes. Konnte es tatsächlich eine
     Form der Beeinflussung geben, die so virulent ist, dass sie die elementare visuelle Wahrnehmung ändert?
    Moscovicis Voraussagen bestätigten sich. Wenn der Vertreter der Minderheit rief: »Grün«, begann sich die Farbe der Nachbilder
     hin zum Purpur-Ende des Spektrums zu verschieben. Das Zeichen war untrüglich, es musste eine Wahrnehmungs- und nicht nur eine
     Einstellungsveränderung stattgefunden haben, eine unterirdische kognitive Neuverdrahtung. Und das, obwohl die Minderheit –
     und auch das hatte Moscovici vorausgesagt – nur geringen Einfluss auf die öffentlichen Antworten der Versuchspersonen hatte.
    Vergleichen Sie dagegen, was unter Mehrheitsverhältnissen geschah, also bei denen, denen man gesagt hatte, 81,8   Prozent hätten die Dias für grün gehalten. Deren Vertreter richteten sich zwar danach, was die Vertreter der Mehrheit in der
     Gruppe riefen, wenn die Farbe der Dias laut benannt werden sollte. Aber das hatte nichts zu bedeuten. Denn die Wahrnehmung
     ihrer Nachbilder ging in die genau umgekehrte Richtung: nicht zum Purpur, sondern zu Gelb/Orange.
    Übte die Minderheit einen subkortikalen Einfluss aus? Es sah ganz so aus.
    Die Sache mit den Karten
    Es kostete einige Mühe, Moscovicis Entdeckung in weiteren Experimenten zu bestätigen, aber es war nicht unmöglich. Inzwischen
     steht seine These, dass sich Gruppeneinflüsse in »dualen Prozessen« durchsetzen, auf empirisch solidem Grund. Es wird heute
     allgemein akzeptiert, dass sich – anders als bei der Wirkung des Konformitätsdrucks   – Minderheiten durchsetzen, indem sie die übrige Gesellschaft permanent und konsistent durch abweichende Meinung bedrängen.
     Sie geben einfach keine Ruhe. Zuletzt dringen sie damit »unter die Haut«. Vorausgesetzt, sie bleiben in ihren Äußerungen konsequent
     und werden als authentisch wahrgenommen. Dann, und nur dann gelingt es Minderheiten, alte etablierte Gewissheiten, alles,
     was wir (die Mehrheit) für selbstverständlich halten, wie mit einem Meißel Stück für Stück zu zerschlagen. Sie zwingen die
     anderen sich zu fragen, wie denn die Realität wirklich beschaffen ist.
    Wir können darüber nur Vermutungen anstellen. Doch könnten solche oder ähnliche Prozesse dafür gesorgt haben, dass Shehzad
     Tanweer und seine Genossen schließlich bereit waren, die Sprengsätze in London hochgehen zu lassen. Und wenn wir ein wenig
     weiterdenken, kommen wir darauf, dass noch eine kleine Verstärkung am Werk war. Möglicherweise hat beides zusammengewirkt,
     die Prozesse, die für Minderheiten gelten, und solche, denen Mehrheiten folgen: Stetige Opposition der Minderheit und Konformitätsdruck
     der Mehrheit überlagerten sich.
    Auf einer Ebene ist es durchaus vorstellbar, dass es die Radikalisierung durch eine Minderheit war, die die Ansichten Tanweers
     und seiner Komplizen verändert hat. Nicht nur metaphorisch, sondern durchaus neurologisch – eine Veränderung tief drinnen
     in ihrem Gehirn. Auf einer anderen Ebene ist es gleichermaßen plausibel, dass der Gruppendruck in Verbindung mit Zugehörigkeit
     und Identität auf eine ganze andere Art gewirkt hat: indem er sie so sehr fesselte, dass sie von der tödlichen Flugbahn, auf
     die sie geschickt wurden, nicht mehr abweichen konnten. Das aber werden nicht nur die Kräfte der Gruppe und ihre Einwirkungausgelöst haben. Wenn sie erst einmal in den Griff der Radikalisierung geraten waren, dann waren sie auch anfällig für weitere
     Viren der Beeinflussung – zum Beispiel den
Bestätigungszwang
: eine Tendenz, die wir alle haben, nicht nur diejenigen, die extrem denken. Wir suchen nämlich in der Regel nach Beweisen,
     die unsere Annahmen bestätigen, und nicht nach solchen, die sie widerlegen.
    Betrachten Sie die folgende Abbildung. Jede Karte trägt auf der einen Seite eine Zahl, auf der anderen Seite eine Farbe. Aufgelegt
     sind vier Karten: »3«, »8«, »rot«, »braun«. Sie sehen nur eine Seite der Karten. Stellen Sie sich nun vor, Sie könnten die
     Karten aufnehmen und umdrehen.

    Zu diesen Karten gibt es eine Regel. Sie lautet: Wenn eine Karte eine gerade Zahl zeigt, dann trägt ihre Rückseite eine der
     Primärfarben. Die Aufgabe ist es nun zu überprüfen, ob die Regel stimmt. Welche Karten werden Sie zu diesem Zweck umdrehen?
    Dieses klassische Rätsel – die Wason Four Card Selection Task – hat ein Experte für menschliche

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