Gehirnfluesterer
Schokolade. Die Beziehung zwischen Entführer und Entführter entwickelte sich vielmehr auf
der ganzen Skala einer Vater-Tochter-Beziehung, die von der Sorge um Lebensmittel und Kleidung bis zu Erziehung und Unterricht
reichte. Und das nicht nur einige Tage lang, sondern acht lange Jahre. Denken Sie an die emotionalen Unstimmigkeiten, die
ein derart intensives Engagement schüren muss, an den Wirrwarr und die Macht sich überschneidender Kräfte, die in diesem engen
und spannungsgeladenen Verlies am Werk gewesen sein müssen. Selbst unter solchen entsetzlichen Bedingungen kann es zu einer
gewissen Bindung zwischen Opfer und Täter kommen.
Die Wirkungsweise des Stockholm-Syndroms ist sehr kompliziert. Es äußert sich meistens in Form eines Doppelschlags von Reziprozität
und Einklang – dieses Cocktails der Beeinflussung, dem wir auch bei Pat Reynolds, dem Star der Direktmarketingfirma, begegnet
sind. Angelpunkt dieser Dynamik ist das Machtgefälle zwischen Entführer und Gefangenem. Beim Gefangenen löst das versöhnliche
Verhalten des Entführers ein Ungleichgewicht aus, eine kognitive Dissonanz, die zwischen den Gefühlen dieser Person gegenüber
(negativ) und denen zu seinen Handlungen(positiv) entsteht. Weil die Geisel nicht die Macht hat, das Handeln des Geiselnehmers grundsätzlich zu ändern, bleibt ihr
nur ein Mittel, um ihren kognitiven Einklang wiederzugewinnen: Sie muss – so unangenehm das auch sein mag – ihre Einstellung
zu dessen Verhalten ändern. Und da springt, unter anderem, unser alter Bekannter ein, das Reziprozitätsprinzip. Es hält uns
dazu an, altruistische Gesten zu vergelten. Die Resultate können, wie wir gesehen haben, verheerend sein.
Reziprozität und Einklang sind hier allerdings nicht die einzigen Schuldigen. Wie Reverend Jim Jones (und andere Verführer
seines Kalibers) nur zu gut weiß, besteht das eigentliche Geheimnis der Kontrolle des Denkvermögens darin, auch über alles
Übrige Kontrolle und Macht zu gewinnen.
Henne und Ei
Mitte der 1960er-Jahre stieß der Kognitionspsychologe Martin Seligman mehr oder weniger zufällig auf ein anderes merkwürdiges
Phänomen. Es begann mit einem Konditionierungsexperiment, zunächst völlig unspektakulär. Hunde wurden wiederholt zwei schnell
aufeinanderfolgenden Stimuli ausgesetzt, einem Ton und einem schmerzhaften, aber harmlosen Elektroschock. Seligmans Ziel war,
Angst vor dem Schock allein durch den Ton zu erzeugen.
Um sicherzustellen, dass der Zusammenhang zwischen dem Ton und dem Elektroschock tatsächlich hergestellt und verankert war,
sperrte Seligman die Hunde in der einleitenden Konditionierungsphase der Studie ein, so dass sie dem Schock nicht durch Weglaufen
entgehen konnten. Während der »Testphase« jedoch war es anders. Jetzt, wo sie nur noch den Ton zu hören bekamen, konnten die
Hunde entkommen. Wären sie fortgelaufen, hätte das bewiesen, dass die Konditionierung erfolgreich verlaufen war.
Aber das Experiment ging ziemlich schief – allerdings völlig anders, als man es erwartet hätte. Denn zu Seligmans größterÜberraschung geschah … nichts, überhaupt nichts. Obwohl die Hunde in dieser Testphase einen Fluchtweg hatten, verharrten sie, wenn das Signal ertönte,
wo sie waren. Kaum zu glauben, aber sie machten keinen Versuch, dem drohenden »Schock« zu entgehen.
Noch unglaublicher war, was als Nächstes geschah. Nun verzichtete Seligman auf das Tonsignal und verabreichte nur Schocks:
Die Hunde wichen noch immer nicht von der Stelle. Um ein derartiges Verhalten zu beschreiben, hat Seligman den Begriff
erlernte Hilflosigkeit
geprägt. Dieses Gefühl, so Seligman, habe die Gehirne der Tiere als Geiseln genommen und ihr »Denkvermögen« stillgelegt. So
weit, dass ihnen alles egal war.
Auch später sorgte Martin Seligman noch für Aufsehen. 2002 tauchte er plötzlich auf einem Forum in San Diego auf, das von
der CIA im Rahmen des SER E-Programms 2 der U S-Army organisiert wurde. Das ist ein Kurs, der dazu dienen sollte, Piloten, Spezialeinheiten und andere für den Gegner wichtige Gefangene gegen Folter möglichst immun zu machen. Es ging, um es direkt
zu sagen, um Verhörtechniken, die nach der Genfer Konvention ausdrücklich verboten sind. Dort, vor einem Publikum von Psychologen
und Regierungsbeamten, referierte Seligman drei Stunden lang über – Sie haben es erraten – die Dynamik der erlernten Hilflosigkeit.
Zwar hat er sich seither aufs
Weitere Kostenlose Bücher