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Gehirntraining - Ueber Die Benutzung Des Kopfes.

Titel: Gehirntraining - Ueber Die Benutzung Des Kopfes. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schirrmacher
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um dann Ziele der Wiederherstellung einer Funktion zu bestimmen. Dies wurde bei diesem Patienten nicht berücksichtigt; statt einer Restitution des Sehens wäre es sinnvoller gewesen, an eine Kompensation etwa durch technische Hilfen zu denken, damit er sich besser in der Welt zurechtfindet. Die Forderung, die verbliebenen Möglichkeiten eines Patienten auszuloten, ist allerdings keine einfache Aufgabe. Versucht man so viel wie möglich zu erreichen und führt den Patienten an die Grenzen seiner Möglichkeiten, oder hält man sich von diesen Grenzen eher fern, um die Motivation des Patienten aufrechtzuerhalten und Frustrationen zu vermeiden?

    Damit bin ich im Zentrum eines Problems, das über die Plastizität des Gehirns hinausgeht. Eine Schädigung im neuronalen Netz verändert aufgrund der strukturellen Verflechtung der verschiedenen Areale das Gesamtgefüge der Informationsverarbeitung im Gehirn, und damit sind auch die Person in ihrer Ganzheit und sogar das soziale Umfeld betroffen; etwa die Hälfte aller Ehen werden innerhalb eines Jahres geschieden, wenn ein Partner einen Schlaganfall erlitten hat. Es ist nicht genug, dass man die Informationsverarbeitung innerhalb eines betroffenen Bereichs verbessert. Die eigentliche Frage ist: Wie kann ein neues Gleichgewicht erzeugt werden, wenn die neuronalen Vorgänge aus den Fugen geraten sind? Wie geht man mit unerwarteten Beobachtungen um? Wie wird die personale Identität gesichert?
    Hierzu ein anderer Fall: Der Patient B. M. kann sich nach einem Ausfall in seiner rechten Gehirnhälfte nicht mehr orientieren. Es ist so, als habe er eine Landkarte im Kopf verloren, die es ihm erlaubt, sich in der Welt zurechtzufinden. Was selbstverständlich erscheint, sich einen Weg vorzustellen, um sein Ziel zu erreichen, ist dann nicht mehr möglich. Ich frage den Patienten, ob er noch ein bildliches Gedächtnis hat, sich also Bilder aus seiner Vergangenheit vor das innere Auge stellen kann, was er bejaht. Das episodische Gedächtnis, in dem Bilder der eigenen Vergangenheit aufbewahrt werden, ist intakt. Die nächste Frage ist entscheidend: »Können Sie sich in der Erinnerung vorstellen, wie Sie von zu Hause zu einem bestimmten Ziel kommen?« Er hatte sich diese Frage selbst noch nie gestellt. Mit Erstaunen stellt er fest, dass er dies
noch kann. Er kann also etwas in der Vergangenheit, was ihm in der Gegenwart nicht mehr möglich ist. Aus einer sehr einfachen Frage erschließt sich die Hypothese, dass nämlich vielleicht nicht seine innere Landkarte verloren gegangen ist, sondern dass im Gehirn der Zugang zu seinem Navigationssystem gestört ist. Die Verbesserung der Orientierung muss also nicht an der inneren Landkarte ansetzen, sondern daran, wie man sie findet.
    Ein Abschneiden von Verbindungen zwischen verschiedenen Arealen des Gehirns geschieht immer wieder, und viele Störungen sind Folge einer Unterbrechung zwischen strategisch wichtigen Arealen. Kleine Netzwerkstörungen können unerwartete Konsequenzen haben, da dann das Gesamtgefüge der aufeinander abgestimmten Funktionen zusammenbricht. Eine kleine Störung kann es manchen Patienten unmöglich machen, eine so einfache Aufgabe zu lösen, wie in Schritten von einer Sekunde zu zählen; manche zählen doppelt so schnell, andere halb so schnell. Diese neue Zählweise ist auch deshalb interessant, da es einen Hinweis darauf gibt, wie das Zählen in unserem Gehirn verankert ist. Wir lernen von Patienten.
    Dieser Bezug neuronaler Prozesse als Grundlage von Einheit im Erleben und Handeln kann vor allem auch am episodischen Gedächtnis verdeutlicht werden. Jeder kann eine Zeitreise in die eigene Vergangenheit machen und sich vorstellen, was vor Kurzem oder in der Kindheit geschehen ist. Hierbei kann jeder etwas entdecken, was mit unserer Identität zu tun hat: In den Bildern der Vergangenheit kann man selbst als Handelnder vorkommen, als ob man sich über die Schultern schauen würde. Man wird
zu seinem eigenen Doppelgänger. Dies ist physikalisch unmöglich, denn in dem Bild, was ich vor Augen habe und das sich dann in mein Gedächtnis einprägt, komme ich als Betrachter nicht vor. Also wird dieses Bild verwandelt, und ich werde gleichsam in mein Erinnerungsbild hineinkopiert. Indem ich zu dem Bild meiner selbst Kontakt herstelle, bestätige ich meine eigene Identität.
    Der Verlust des Gedächtnisses ist deshalb so katastrophal, weil man dabei auch diese Eigenidentität verliert. Deshalb ist es sinnvoll, durch persönliche

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