Gehirntraining - Ueber Die Benutzung Des Kopfes.
was sie erst vor Kurzem erlebt habe. Doch sie habe doch nichts gesehen? Sie meint, was sie durch andere Sinne aufnehme, werde im Traum in Bilder verwandelt. Was sie gehört oder getastet hat, wird verbildlicht, allerdings im Traum. Obwohl sie seit Jahren nichts mehr sehen kann, ist ihr die bildliche Welt also nicht verschlossen. Dies bedeutet, dass die einzelnen Systeme unseres Gehirns eng
miteinander verzahnt sind, denn sonst könnte aus dem Gehörten oder Getasteten nichts Gesehenes werden.
Hier bildet sich im Erleben ab, was aus der Architektur des Gehirns mit der Vernetzung der vielen Nervenzellen bekannt ist. Diese Abhängigkeit der neuronalen Systeme voneinander bedeutet dann auch, dass Störungen an einem Ort auch woanders Auswirkungen haben können oder sogar müssen. Und da die Verschaltung unseres Gehirns so komplex ist, kann man nicht genau voraussagen, welche Störungen die Folge sind, wenn eine Struktur etwa nach einem Schlaganfall ausfällt. Daraus folgen wiederum besondere Herausforderungen für die Therapie kranker Menschen, dass nämlich jeder Patient in seiner Einzigartigkeit erkannt werden muss. Doch erlauben solche Ausfälle auch unerwartete Einblicke in die Funktionsweise unseres Gehirns.
Eine erste Beobachtung: Zu unserem evolutionären Erbe gehört, dass wir es als selbstverständlich empfinden zu sehen, wenn wir die Augen öffnen, uns zu bewegen, wenn wir es wollen, oder zu sprechen, wenn wir etwas sagen möchten. Dies ohne Anstrengung tun zu können ist ein Geschenk der Natur, das wir in seiner Selbstverständlichkeit erst erkennen, wenn es verloren gegangen ist. Was nach Schädigungen des Gehirns verloren geht, das sind nicht nur bestimmte Funktionen, sondern auch die Mühelosigkeit, mit der alles geschieht.
Hierzu ein besonderer Fall: Vor dreißig Jahren veröffentlichte ich mit Kollegen Beobachtungen an dem Patienten H. H., mit denen meines Wissens zum ersten Mal gezeigt wurde, dass systematisches Training zu einer Verbesserung
des Sehens führt, wenn das Sehen nach einem Schlaganfall stark beeinträchtigt ist. Manchmal sind nach einem Schlaganfall beide Gehirnhälften betroffen. Der Patient ist dann auf beiden Seiten des Gesichtsfeldes blind, aber es kann vorkommen, dass die neuronale Repräsentation der Blicklinie selbst von der Erblindung ausgenommen ist. Es kommt zum Tunnelsehen. Das Gesichtsfeld ist nicht größer als der Durchmesser der Hand bei ausgestrecktem Arm.
Als ich das erste Mal das Gesichtsfeld ausgemessen hatte, das dem Patienten geblieben war, entschloss ich mich, diesen Tunnel des Sehens zu erweitern. Dies gelang auch durch intensives Training; die Therapie war also erfolgreich. Nach einiger Zeit wurde der Patient aus der Klinik entlassen. Wie überrascht war ich, dass nach einigen Monaten sein Gesichtsfeld sich erheblich verkleinert hatte. Ich versuchte, durch dasselbe Training das Gesichtsfeld wieder zu erweitern, doch der ursprüngliche Erfolg konnte nicht wiederholt werden; es kam bei diesem zweiten Versuch nur zu einer geringfügigen Erweiterung des Gesichtsfeldes.
Was kann man von einem solchen Fall lernen? Offenbar ist es möglich, eine Verbesserung von Funktionen nach einer Hirnschädigung zu erreichen, wenn intensiv geübt wird. Hierfür ist es notwendig, dass der Patient selbst aktiv ist, also hinreichend Motivation vorhanden ist, um eine Verbesserung der Funktion zu erreichen. Wenn aber die Funktion nicht aktiv genutzt wird, für die man eine Verbesserung erreicht hat, dann verliert sich der funktionelle Zugewinn wieder. Als der Patient H. H. nicht
mehr in der Klinik war und nicht mehr durch andere täglich motiviert wurde, sein Sehen auch im Alltag einzusetzen, ging der funktionelle Gewinn wieder zurück. Eine weitere Einsicht: Je größer das Intervall ist, das zwischen der Hirnverletzung und dem Beginn einer Rehabilitationsmaßnahme liegt, desto geringer ist die Chance für einen funktionellen Zugewinn; man muss also so schnell wie möglich nach einem Schlaganfall oder einem Gehirntrauma mit der Therapie beginnen.
Neben diesen positiven Erkenntnissen habe ich aber auch gelernt, dass ich niemals den Versuch hätte unternehmen dürfen, das Gesichtsfeld zu erweitern. Das Gehirn war zu stark geschädigt, um ein Leistungsniveau beim Sehen zu erreichen, das für den Alltag hätte nützlich sein können. Mit dem Training wurden Hoffnungen geweckt, die nicht erfüllt werden konnten.
Bei jedem Patienten geht es darum, die verbliebenen Ressourcen abzuschätzen,
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