Gehoere ich halt nicht dazu
Nicht einmal mich hat sie in ihr Herz gelassen. Und den Stiefvater meiner Mutter hat sie nur geheiratet, weil er ein Freund von Großvater war. Und ich denke, weil er reich war. Geliebt hat sie ihn keine Sekunde.“
In diesem Moment sehe ich die erste Sternschnuppe meines Lebens am helllichten Tag. Ich wünsche mir, dass Jolanda mich ohne Vorwarnung umarmt und lange mit offenen Augen küsst. Ich stell mir vor, wie sich unsere Zungen sanft berü h ren. Sie schmeckt sicher gut. Ihre Lippen sind weich und ihr Atem ist warm. Ich...
Jolanda lässt meine Hand los und fragt, ob mein Großv a ter erschossen wurde. „Er wurde von einer Schlange gebissen“, antworte ich grinsend.
„Gehen wir“, sagt Jolanda. „Und hören Sie bitte auf, mir über Ihren Großvater zu erzählen. Sie langweilen mich.“ Innerlich triumphiere ich wie Alexander nach gewonn e ner Schlacht. Sie hat mich nicht geküsst. Dafür habe ich sie verletzt. Auch das verschafft mir eine gewisse Lust. Erster Punkt für mich!
Sie will wissen, warum ich hier spazieren gehen will. „Weil es mehr zum Lesen gibt als in Parks“, sag ich. Sie will wissen, ob ich allein bin. „Ja“, sag ich. Ich will nichts von ihrem Leben wissen. Das kränkt sie offenbar auch. Zwei zu null!
Im Kaffeehaus in der nahen Simmeringer Hauptstraße bin ich weniger geladen. Ich frage Jolanda, ob sie je darüber nachg e dacht hat, woher ihre Angst vor Schlangen kommen könnte. Jolanda schaut mit leerem Blick ins Nichts, fast eine Minute lang, bevor sie antwortet: „Schlangen sind so kalt und so glatt. Sie kriechen immer dann näher, wenn ich sie nicht erwarte. Sie haben böse Augen und ein hässliches Gesicht.“ Das Mädchen macht eine Pause. Dann meint sie flü s ternd: „Sie können mich nicht ausstehen. Sie wollen nach mir schnappen , und sie wollen, dass ich sterbe. Und sie wissen, dass ich Angst vor dem Leben habe. Weil sie schon in meine Gedanken gekrochen sind. Sie kriechen lan g sam in meinem Kopf umher und bahnen sich ihren Weg durch meinen Hals, sodass ich beinahe an ihnen ersticke. Mir wird schlecht, wenn ich sie in meinem Magen spüre , und sie ruhen sich in me i nem Darm aus, der sich wie eine Schlange anfühlt. Und sobald eine Schlange meinen Körper verlässt, wird eine neue Schlange in mir geboren. Ich kann nicht atmen, weil die Schlangen mir durch ihr ras t loses Kriechen alle Energie rauben. Ich möchte sie töten. Aber dann würde ich auch mich töten. Und dazu bin ich zu feige und zu schwach.“
Jolanda tut mir leid. Sie sollte in Therapie gehen. Oder einmal nachprüfen lassen, ob sie Bandwürmer hat. Ge r ne würde ich ihr sagen, dass ich in ein paar Tagen tot sein werde. Aber ich tu es nicht und zahle stattdessen wortlos die Rechnung.
Wir gehen wieder vor die Tür. Ich würde sie jetzt gern viele Dinge fragen. Woher ihre Familie stammt. Wie alt sie genau ist, denn sie wirkt noch sehr jung. Ich schätze sie auf 20. W a rum sie eine Kerze auf den Friedhof mi t genommen hat. Wie und wo sie sich am liebsten selbst befriedigt.
„Mein Lieblingskunde“, sagt sie plötzlich, „ist ein älterer Herr. Er kauft jede Woche etwas, das wen i ger als zehn Euro kostet. Er beginnt im Jänner schon Weihnachtsgeschenke zu kaufen. Er erzählt immer für welchen Enkel, für welches Kind oder für welche Dame - so nennt er seine weiblichen Bekanntschaften - er das so eben Gekaufte bestimmt hat. Und dann erzählt er immer von seinem L e ben. Das ist sehr nett, da macht das Arbeiten Spaß. Er kommt jeden Dienstag gegen 14 Uhr, wenn ganz wenig los ist.“
Ich sage nichts, ich spüre nur den Wunsch, dass ich gern der Lieblingskunde wäre.
„Soll ich dich noch irgendwohin mitnehmen, ich bin mit dem Auto da“, frage ich. Ich habe beschlo s sen, dass ich sie duze, ohne nach einer Erlaubnis zu fragen. Immerhin hat sie mir ihr Innerstes bereits offenbart.
Jolanda schaut auf die Uhr. „Ja, das wäre super. Ich muss bis drei im Kindergarten sein. Der Kinde r garten ist in Ottakring.“
Ich sage nichts. Statt Sternschnuppen spüre ich glühende Flugzeugteile, die in mein Herz einschlagen und es ze r stören. Bis drei Uhr im Kindergarten sein zu müssen. Das bedeutet zu 90 Prozent, dass sie selbst ein Kind hat. Wenn sie selbst ein Kind hat, heißt es zu weiteren 90 Prozent, dass es auch einen Vater dazu gibt, der ihr Freund oder Mann ist. Und wenn sie keinen Freund oder Mann hat, wird sie vermutlich keine Zeit für andere Männer haben, weil sie sich dauernd um den
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