Gehoere ich halt nicht dazu
dass nach denen, die bereits am Boden lagen, noch i m mer getreten wurde. Dass schlechte Noten die Aggress i on zwei Pausen später erhöhten.
Ich überlege, ob ich die früheren Mitschüler kontaktieren sollte. Doch was wird aus ihnen schon g e worden sein? Es waren alle Trottel. Einer ist jetzt wahrscheinlich Arzt, einer Anwalt, einer Lehrer, einer vielleicht Handwerker, einer Journalist, einer ein bisschen berühmt, einige ein bisschen bedauernswert, einer ausgewandert, einer eingeäschert, minde s tens zwei sind Selbstmörder. Was könnte ich ihnen sagen? Nichts, denke ich. Es wären Gespräche nach dem Motto „E r innert ihr euch noch?“ und die meisten würden nichts mehr wissen, nur ein paar hätten die Schulzeit noch nicht ve r drängt. Was bringt's? Nichts. Ich wüsste nicht, was ich ihnen sagen soll.
Ich weiß, vielleicht hätte ich mehr Hobbys haben, mehr unter die Leute gehen sollen, um Freunde zu gewinnen. Aber ist es meine Schuld, dass ich lieber vor dem Co m puter sitze als etwa in irgendeinem verfickten Schwuchtelteam bescheuert Ba s ketball spiele? Dass ich lieber lese als mit irgendwelchen Arschlöchern an einem Tisch sitze? Dass ich lieber Musik höre oder für mich alleine spiele als in irgendeinem Eunuchen-Chor zu si n gen? Dass ich mein Handy tagelang nicht eingeschaltet habe, weil mich ohnehin keiner anruft? Dass ich gerne allein im Auto durch die Welt fahre? Dass mir die meisten Me n schen so was von auf den Arsch gehen. Kann ich was dafür, dass alle Trottel sind?
Früher, als ich manchmal noch versuchte, Freun d schaften zu schließen, habe ich ab und zu jemanden mit nach Hause g e bracht. Meist waren es gutmütige, dicke Buben, die auch Anschluss suchten. Aber niemand war me i ner Mutter recht. Und aufregen wollte ich sie auch nicht. Sie hatte oft Kopfweh, sie war oft auf Diät. An vielen Tagen konnte ich sie nicht he r zeigen, weil sie so traurig war. Mama war mir immer wicht i ger. „Ja, ich bin eh brav, Mama.“ Das war dumm von mir.
Später gab es One-Night-Stands. Emotion im Schnelldurchlauf und danach weiß keiner, war das Glück, bringt das Glück, kommt noch einmal so was, will man das, soll man es in die Länge ziehen, wo das Ende doch schon in Sicht ist. Ich war mir nie sicher. Es gab auch manchmal Fernbeziehungen. Liebe in Bytes, Briefe und Pakete g e packt , und irgendwann ging die Zustelladresse verloren. Das fand ich noch am besten.
Ich weiß, ich bin schwierig. Das ist auch nicht leicht für mich. Und jetzt ist es eh schon zu spät. Ach leckt mich doch alle kreuzweise , ihr Idioten.
Ein Mädchen kommt, um meine Tasse abzuservieren, aber sie blickt immer auf den Boden, in alle Ecken, setzt ganz vorsichtig einen Schritt vor den anderen. Sie passt mit ihren langsamen Bewegungen nicht in die schnelle Welt. Ich schau sie wahrscheinlich ein bisschen zu fr a gend an.
„Wissen Sie, hier wimmelt es nur so von Schlangen“, sagt die Frigo-Mitarbeiterin.
„Haben Sie die jetzt im Angebot?“ frage ich.
„Nein“, sagt sie böse. „Eine Schlange hat sogar eine alte Frau tot gebissen. In dieser Straße. Es ist sehr gefährlich hier.“
Ich sage nichts.
„Schlangen sind böse“, sagt sie.
„Nein, sie sind missverstanden“, sage ich leise.
„Nein , böse“, meint sie. Sie bleibt bei mir stehen. Dann flü s tert sie mir ins Ohr: „Im Vietnamkrieg hat man Erdlöcher gegraben , und dann hat man dort Menschen gefangen und eine Schla n ge zu ihnen ins Loch geworfen. Eine giftige.“
Ich schaue sie fragend an. Sie wirkt schon ein wenig ausländisch, aber nicht als wäre sie eine Vietn a mesin.
„Aber da waren dann die Menschen böse und nicht die Schlange“, sage ich.
„Und warum sagt man falsche Schlange zu Menschen ? “, fragt sie. Ihre Augen funkeln.
„Weil die Schlangen ein schlechtes Image haben“, sage ich.
Sie serviert die Tasse ab.
„Achtung“, sage ich, weil jemand offenbar ein Glas Wa s ser ausgeleert hat und der Boden nass ist.
„Aaahhhh“, schreit sie. „Die Schlange!“ Sie lässt die Ta s se fallen. Alle Leute schauen uns an.
„Ich meinte, Achtung, der Boden sei nass“, sage ich entschu l digend.
Ihre Chefin kommt, sie wirkt nicht sehr freundlich.
„Ich zahl die Tasse“, bestimme ich. Aber da ist nichts mehr zu retten. Die Stimmung ist schlecht. Da kann man noch so viel „Gute-Laune-Tee“ im Sortiment haben. Und um nicht noch mehr Unheil anz u richten, gehe ich, lasse zehn Euro auf dem kleinen Tisch liegen.
Die Mitarbeiterin
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