Gehoere ich halt nicht dazu
gibt kein l e benswertes Leben.
Ich erkenne an Jolandas Gesicht, dass sie lieber im angre n zenden Foltermuseum übernachten oder die Kle t terwand am Haus des Meeres ungesichert besteigen würde als dieses Haus mit den vielen exotischen Schlangen zu betreten. Ich zische ihr freundlich aufmunternd zu. Gleichzeitig rasselt Florian mit seinem Spielzeug. Jolanda würgt. Für einen kleinen Moment ist mir der kle i ne Fratz sogar sympathisch.
Als ich etwa so alt wie Florian war und zum ersten Mal von einem „Haus des Meeres“ in Wien gehört hatte, da habe ich mir etwas völlig anderes vorgestellt als einen alten Flakturm mit ein paar Terrarien in engen Gängen ohne Tage s licht.
Ein Haus des Meeres war in meiner Vorstellung etwa so blau wie der Farbton „Ultramarin“ bei den Jolly-Buntstiften. Natü r lich war Meerwasser drin im Haus des Meeres. Jede Menge. Wie sonst könnte es Haus des Meeres heißen? Schlumpf - hausen besteht aus Schlüm p fen, Entenhausen aus Enten, bei Gotteshäusern funktioniert das auch so äh n lich. In meinem Haus des Meeres gab es auch einen alten Mann. Einen Fischer. Mit grauem Vollbart und Pfeife. Borkum Riff. Es gab einen Raum mit Meere s rauschen und Möwenkichern und einen mit Hafengeruch und Schiffssirenen. Von den Wänden hi n gen Rettungsringe und ein Kapitän in blauer Uniform mit weißem Bart war auch da. Und ein Seeräuber mit Kopftuch und Armprothese mit Haken dran. Die Wände w a ren salzig, der Boden voller Sand, Muscheln und Seetang. Am Eingang lief der Zeichentrickfilm der Beatles. Yellow submar i ne.
Als ich ein Kind war, war mir das Meer genauso fremd wie ein Flakturm. Andere Kinder fuhren im Sommer ans Meer nach Italien oder Kroatien. Ich musste mit meinem Stief -G roßvater nach Tirol wandern gehen. Meine einzige Freude war das Sammeln von Planketten, die ich auf meinen Wanderstock schrauben durfte, wenn ich das Ziel erreicht hat te . Am Dac h steingletscher habe ich für ein Foto den Wanderstock bis zum Anschlag in den gefrorenen Schnee gesteckt. Beim Rauszi e hen rissen fast alle Planketten aus dem Holz. Ich hab e nicht geweint. Aber ich war den gesamten restlichen Urlaub über traurig und uninteressiert an der Außenwelt. Niemand konnte sich erklären, was mit mir los war. Die im Eis verlorenen Pla n ketten waren ein großer Verlust für mich. Es war für mich, als hätte man mir das Erreichte wieder wegg e nommen.
Ich finde, man sollte für alle erreichten Ziele im Leben Pla n ketten bekommen. Vielleicht würden dann alle Menschen mehr erreichen wollen und mehr erreichen. Ich habe das Meer auch erreicht. Allerdings erst im Alter von 20 Jahren. Dafür gleich die Ägäis. Die schöne Ägäis. Nicht bloß die hässl i che Adria. Sie sollte immer meine Freundin bleiben. Auf die Plankette habe ich dennoch verzichtet.
Um mich bei Florian ein wenig einzuschleimen , kaufe ich nicht nur die Eintrittskarten ins Haus des Meeres, sondern gleich auch eine rosarote Stoffschlange und übe r reiche ihm das Reptil feierlich wie ein goldenes Ve r dienstzeichen der Stadt Wien. Mit einem teilnahmslosen Lächeln. Florian nimmt die Schlange wortlos und schaut mich nicht weiter an. Mir doch egal. Du musst nicht Danke sagen. Kle i nes Arschloch.
Jolanda kriegt von unseren zögerlichen Versuchen des näher Kennenlernens und den gut versteckten Sympathiekundg e bungen kaum etwas mit. Sie gibt sich lieber ausgiebig ihrer Angst hin. Mir gefällt das. Willenlose Hi n gabe. Das kann was.
Eine Stunde später sitzen wir schon im Eissalon in der Mariahilfer Straße und schlecken Eis. Stracciatella, Cookies und Nutella. Florian wirkt jetzt zugänglicher. Wie alle Kinder mit Eistüte. Jola n da hat die ganze Zeit über kein Wort gesagt. Ich denke, sie hat überhaupt nichts mitbekommen im Haus des Meeres. Sie hatte die Augen offen, aber ihr Blick war dennoch die ganze Zeit nach innen gerichtet. Ich kenne das gut. Mehr und mehr Zeit meines Lebens verbringe ich auf diese Weise. Oft Stu n den lang. Jolanda kann sich glücklich schätzen, dass sie ihren Blick nur im Haus des Meeres von äußerer Wah r nehmung auf innere Wahrnehmung umstellen muss. Habe ich vielleicht auch immer dann panische Angst, wenn ich mich verhalte wie eben Jolanda? Kann gut sein.
Ich versuche zu kategorisieren, bei welchen Situationen ich den Blick von außen nach innen umscha l te.
Es hat jedenfalls immer mit Menschen zu tun. Je mehr Me n schen in meiner Nähe sind, desto eher schalte ich um. Allerdings nicht,
Weitere Kostenlose Bücher