Gehoere ich halt nicht dazu
Sie lacht nicht mehr, sie weint nicht mehr, sie sagt nichts. Zu niemandem. Da gibt es nichts mehr. Kein Funkeln in den Augen. Keine Antwort auf Fragen. Die Gleichgültigkeit in Person. Voll gepumpt mit Medikamenten. Keine Chance auf Heilung, sagen die Ärzte. Nicht schuldfähig, s a gen Juristen. Und ich weiß nicht, ob ich von meiner Mutter in der Vergangenheit reden soll oder in der Gegenwart. Vielleicht wird alles wieder gut, sie kann sich am Einkaufen freuen und auch sonst manchmal. Nur: Daran gla u be ich nicht.
Ich habe mich immer wieder gefragt, ob meine Mutter eigen t lich mich hatte töten wollen. Weil der Passant eine ähnliche Haarfarbe wie ich hatte und weil er ähnlich groß war wie ich. Antwort auf die Frage gibt es keine. Auch nicht, ob das nicht besser gewesen wäre. Für me i ne Mutt er und für mich. Und für viele a ndere.
Ich habe mich in Gedanken auf jeden Fall von ihr verabschi e det. Ich hasse sie. Sollte sie wirklich noch einmal aufwachen und heimkommen in die Wohnung, werde ich mir eine eigene suchen. Blöder Gedanke. Binnen einer Woche wird sie sowi e so sicher nicht gesund , und danach bin ich ja schon weg. Glück gehabt. Ich hätte eigentlich mit spätestens 18 von d a heim ausziehen müssen, denk ich jetzt. Aber als ich es ankündigte, hat meine Mama so geweint, war so verzwe i felt, dass ich geblieben bin. Ich habe mir gedacht, wenn ich eine Freu n din finde, dann zieh ich vielleicht zu ihr. Aber das hat sich nie erg e ben - und ich blieb bei Mama.
Wenn ich ins Kino ging, wollte sie immer, dass ich vom Film erzähle. Das war mir zu lästig, drum bin ich nicht oft gegangen. Wenn ich abends lange fort war und betrunken heimkam, hat sie im Bademantel auf mich gewartet. Manchmal hat sie mir eine Tablette hingelegt. Manc h mal hat sie mich angeschrien, manchmal geweint. Aber dank des Alkohols konnte ich alles ertragen.
Ich schaue auf die Uhr, vom Tag ist immer noch viel übrig. Noch sieben Stunden sind es bis Mitternacht. Noch 22 Stu n den bis ich Jo landa im Haus des Meeres wieder sehen kann. Soll ich sie anrufen? Und einfach nichts sagen? Nur am Telefon lauschen? So, wie ich das bei me i ner ersten großen Liebe gemacht habe? Sie war älter als ich. Und ich habe sie häufig angerufen, um dann nur zu lauschen. Sie ist lange dran geblieben. Ich konnte ihren Atem hören. Und ich hab mir vorg e stellt, dass sie nackt ist. Ich hätte so gerne was gesagt. Aber ich hatte Angst. Angst, dass sie mich auslacht. Dass sie die Polizei ruft. Drum habe ich nur gelauscht. Ich hätte so gerne ein Bild von ihr gehabt. Damals gab es kein Facebook. Und keine Digitalkameras. Ich hätte sie heimlich fotografieren und die Bilder entwickeln lassen müssen. Aber meine Fantasie bescherte mir ohnehin spannendere Bilder. Und Töne und Ger ü che.
Meine Großmutter hat das, was mit meiner Mutter pa s siert ist, nicht verwunden. Als sie damals in den Zeitu n gen Bilder von ihrer Tochter sah, hörte ihr Herz auf zu schlagen. Und ich als einziger Enkel war froh, dass die Erfüllung ihres letzten Wunsches, nämlich im Brautkleid beerdigt zu werden , nicht so einfach umzusetzen war und mich ein paar Tage beschä f tigte. Denn in den Jahren des Wohlstands mit ihrem zweiten Mann, dem Richter, hatte meine Großmutter auch ordentlich an Gewicht zug e legt. Und so musste ich eine Schneiderin finden, die das alte Brautkleid erweiterte, nach altem Brau t kleiderstoff suchen, um das Kleid zu vergrößern, nach Bändern, Spitzen und Knöpfen. Ich wollte meiner Oma eine letzte Freude machen, daher musste das Kleid perfekt sein und nicht nur eine Notl ö sung.
Mir ist egal, was ich anhabe, wenn ich beerdigt werde. Bloß nackt möchte ich nicht beerdigt werden. Weil ich zu fett bin. Und zu bleich. Ich möchte bitte verhüllt sein, wenn mich die Erde aufnimmt. Aber Selbstmörder we r den ja ohnehin nicht beerdigt. Sie werden verscharrt.
Die Gedanken an meine Mutter mit dem Messer in der Hand kommen immer wieder hoch. Häufig in eher u n günstigen Momenten: Beim Essen und beim Sex. Manchmal stelle ich mir auch vor, dass ich meine Mutter damals bei ihrer Bluttat vielleicht irgendwie gesteuert haben könnte.
Das bringt mich auf den Gedanken, dass ich sie gerne völlig steuern würde. Nicht meine Mutter in s gesamt und auch nicht als Mutter. Aber als meine Mutter mit dem Messer. Ich habe dabei so ein Hit and Run oder Shoot and Kill, oder was-weiß-ich- wie-diese-Computerspiele-heißen im Kopf. Meine Mutter läuft rasch und
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